von Johannes Boie
Im Saal einer liberalen jüdischen Gemeinde steht eine junge Frau. Sie trägt einen Cordrock, Stiefel mit Absatz und eine hellgrüne Bluse. Die langen, rotblonden Locken fallen über ihre Schultern, die Fingernägel sind dunkelbraun lackiert. Eine Frau fragt freundlich: »Sie werden wohl zur Gemeindearbeiterin ausgebildet?« Die Frage ist nett, aber eher rhetorisch. Denn die Aufgaben, die die junge Fremde in der Gemeinde erledigt, verweisen eindeutig auf ihre religiöse Ausbildung. »Nein«, sagt Alina Treiger denn auch: »Ich werde Rabbinerin.«
Obwohl sie nur in liberalen Gemeinden Praktika absolviert, schlägt der 27-Jährigen oft Verwunderung entgegen. »Geht das denn überhaupt als Frau?«, fragen die ehrlich Interessierten. Die einzige Rabbinatsstudentin in Deutschland ist daran gewöhnt: »Da kommen Sprüche!«, seufzt sie kurz – und lacht schon wieder: »Ich muss mich eben mehr beweisen als die Männer.«
Mit Erfolg, wie man hört. Bislang hat Alina Treiger als Praktikantin die liberalen Gemeinden in Hameln, Bad Segeberg und Göttingen verstärkt. »Wir hätten sie gern länger behalten«, erinnert sich Walter Blender, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Segeberg. »Alina hat vor allem die Zuwanderer in ihrem Innersten angesprochen«, sagt Blender. »Viele sind zu den Gottesdiensten gekommen, nur um sie zu erleben. Sie hat ihnen vermittelt, dass sie stolz auf ihr Judentum sein können.«
Auch in Göttingen ist man voll des Lobes über Alina Treiger. Leider fehle der Gemeinde das Geld, um jemanden wie Alina Treiger auf Dauer an sich binden zu können, bedauert Harald Jüttner. »Wir sind eine sangesfreudige Gemeinde, und da war Alina, die früher mal Musik studiert hat, genau die Richtige für uns.« Sie habe sich in Göttingen vor allem um den Religionsunterricht und die Kinder der Gemeinde gekümmert. »Mit ihrer Begeisterungsfähigkeit hat sie alle mitgerissen«, sagt Jüttner.
Dabei ist Alina Treiger selbst nicht religiös aufgewachsen. 1979 wird sie in der ukrainischen Stadt Poltawa geboren. Es ist die Zeit des eskalierten Ost-West-Konflikts. China marschiert gerade in Nordvietnam und die Sowjetunion in Afghanistan ein. Die NATO verabschiedet den Doppelbeschluss. Den meisten Menschen im Ostblock geht es nicht allzu gut, auch Familie Treiger hat wenig Geld. Alina ist Einzelkind. Ihr Vater, Phula Treiger, arbeitet in einer Fabrik. Dass er nicht studieren durfte, weil er Jude ist, hat sich seiner Tochter ins Gedächtnis gebrannt. Er muss hart arbeiten und verdient sehr wenig Geld. »Diese Erfahrung hat mir immer bewusst gemacht, dass ich jüdisch bin«, sagt Alina. Trotz Geldmangels und Diskriminierung habe sie ihre Religion positiv wahrgenommen. »Ich hatte etwas, was andere nicht hatten.« Alinas Mutter Nadeschda, eine studierte Lebensmittelchemikerin, ist keine Jüdin. Deshalb ist Alina Treiger später zum Judentum übergetreten. In Poltawa glaubt sie, das einzige jüdische Kind zu sein. Religion ist verpönt im Ostblock.
Ende der 80er Jahre werden die Treigers vom Zusammenbruch der Sowjetunion überrascht. Die Zeiten ändern sich. Auf einmal bemerkt Alina, dass sie mit ihrem Judentum nicht allein ist. Sie lernt andere Juden kennen, wird in der Gemeinde aktiv, sie gründet einen Jugendklub. Zum ersten Mal ist sie von dem Tatendrang erfüllt, der sie bis heute nicht verlassen hat: Leider ist die Mitarbeit in der orthodoxen Gemeinde für sie als junge Frau nicht einfach. »Frauen, Frauen«, ahmt sie den Tonfall nach, den sie damals als sehr verächtlich empfand. Doch sie merkt auch, dass religiöse Arbeit ihre berufliche Zukunft sein könnte. Aber wenn, dann nur bei den Liberalen. Dort fühlt sie sich als Frau besser aufgehoben.
Alina Treiger beginnt zuerst ein Musikstudium. Sie bleibt in ihrer Heimatstadt, um den Eltern nahe zu sein. 1998 macht sie mit der Jewish Agency eine Reise nach Israel. »Israel«, das klingt in den Ohren der jungen Frau wie eine Verheißung. Für Alina beginnen dort die wichtigsten neun Tage ihres Lebens. Sie saugt Jerusalem geradezu auf.
Glücklich kehrt sie in die Ukraine zurück und verstärkt ihre Arbeit in der Gemeinde. In Moskau erhält sie eine zweijährige Ausbildung zur Gemeindearbeiterin. Nach einem Jahr Theorieunterricht in der Hauptstadt geht sie zurück nach Poltawa, wo sie eine neue Gemeinde gründet: »Liberale Gemeinde Beit Am«. Sie ist gerade mal 21 Jahre alt. Heute hat die Gemeinde 120 aktive Mitglieder. »Sie ist ein Anziehungspunkt für jüdische Jugendliche«, sagt Alina.
Sie ist stolz und fühlt sich geehrt. Sie weiß, dass sie gute Arbeit leistet. Aber innerlich plagen sie Zweifel. »Ich wusste, dass Frauen Rabbiner sein können«, sagt sie nachdenklich, »aber ich sah auch, dass Männer es so viel einfacher haben: Trägt ein Mann einen Gebetsschal, wird er für einen Rabbi gehalten. Eine Frau nicht.«
Mit dem Judentum würde sie immer zu tun haben – dazu müsste sie nicht Rabbinerin werden und diesen Kampf aufnehmen. Und schließlich entscheidet sich Alina doch fürs Rabbinat. Insgeheim denkt sie, dass sie ans teure Leo-Baeck-College nach London geschickt würde. »Ich habe Englisch gelernt.« Doch alles kommt anders. »Sie gehen nach Berlin«, teilt man ihr in Moskau mit.
Am 7. Juli 2001 trifft sie in der deutschen Hauptstadt ein. Alina ist das erste Mal in Deutschland. »Ich hatte nur einen ganz kleinen Koffer und keine Ahnung, was mich erwartet.« Sie bekommt ein Studentenvisum und zieht in ein Wohnheim in der Suarezstraße. Am Abraham-Geiger-Kolleg wird sie herzlich aufgenommen. Zwei Jahre lang lernt sie Deutsch. Heute spricht sie fast akzentfrei.
»Alle sind von ihr begeistert«, sagt Walter Homolka, der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs. Doch nicht nur von den Gemeinden wird sie umworben – ein Kom- militone hat sich in sie verliebt. Längst sind die beiden ein Paar und teilen sich eine Wohnung in der Nähe des Instituts. Nächstes Jahr wollen sie heiraten. Bevor es soweit ist, steht noch ein Israel-Aufenthalt auf Alinas Studienplan. Sie ist voller Vorfreude: Es wird sein wie die neun Tage im Herbst 1998. Nur diesmal dauern sie ein ganzes Jahr.