»Die Türkei hat eine Identitätskrise«
Herr Inbar, die türkisch-israelischen Beziehungen haben sich deutlich verschlechtert. Beunruhigt Sie diese Entwicklung?
Das Verhältnis ist derzeit immer noch besser als vor 1991. Heute gibt es regelmäßig diplomatische Kontakte. Aber zweifellos hat die strategische Partnerschaft zwischen beiden Ländern in jüngster Zeit gelitten.
War der Gasakrieg der Auslöser dafür?
Womöglich. Auf jeden Fall ist dadurch etwas deutlich geworden: In der Türkei gibt es seither eine größere Bereitschaft, auf Distanz zum Westen zu gehen. Das Land ist das einzige Nato-Mitglied, das die Präsidenten des Irans und des Sudans empfangen hat und einen Dialog mit der Terrororganisation Hamas führt. Das zeigt, dass sich die türkische Nahostpolitik verändert.
Woran liegt das?
Die strategische Situation in der Region hat sich für die Türkei entscheidend verbessert. Die Spannungen mit Syrien sind vorüber. Und der Irak ist keine Bedrohung mehr. Für Ankara hat Israel somit keinen großen Stellenwert mehr. Aber es gibt auch innenpolitische Gründe. Seit die islamische AKP an der Regierung ist, gibt es einen Politikwechsel. Dazu gehört, dass den Beziehungen zu muslimischen Ländern mehr Bedeutung beigemessen wird.
Beobachter sprechen von einer Zunahme des Antisemitismus in der Türkei.
Das ist schwer zu beurteilen. Aber die persönliche Einstellung von Premierminister Erdogan gegenüber Juden ist mit Sicherheit ein Grund für die Abkühlung der Beziehungen zu Israel. Womöglich ist er gar ein Antisemit.
Erdogan wirft Israel vor, Gasa mit Nuklearwaffen angreifen zu wollen. Woher kommen solche Verschwörungstheorien?
Das müssen Sie ihn fragen. Unglücklicherweise regiert Erdogan derzeit die Türkei.
Welche Rolle spielt die EU-Beitrittsdiskussion?
Leider zieht die Türkei die Diktaturen in Teheran, Damaskus und Gasa der Demokratie in Jerusalem vor. Das wird die Chancen weiter verringern, dass das Land Mitglied der EU wird. Dafür sind die Aussichten ohnehin nicht besonders gut, auch aus Gründen, die nichts mit Israel zu tun haben.
Eine von Ihnen geleitete Konferenz an der Bar-Ilan-Universität trägt den Titel »Türkei wohin?«. Wie wird Ihre Antwort lauten?
Noch ist unklar, welche politische Richtung die Türkei einschlagen wird. Das hängt vor allem vom Kampf um die eigene Identität ab, in dem die Türken selbst die Hauptakteure sind. Die Bevölkerung entscheidet, welchen Staat sie haben will. Europa, Israel oder die USA können dabei wenig tun. Es ist eine Identitätskrise. Nur die Türken können die Türkei davor bewahren, in das radikale islamische Lager abzurutschen.