Auschwitz

Die Toröffner

von Tobias Kühn

An einem sonnigen Mittwochnachmittag sitzt Christian Ender im Büro einer kleinen Fiat-Werkstatt mit Gebrauchtwagenhandel in Berlin-Kreuzberg. Der 32jährige ist mit dem Fahrrad gekommen. Er möchte mit Werner Bab sprechen, dem Inhaber des Geschäfts. Nicht über Autos, sondern privat. Die beiden sind Freunde und Vereinskollegen. Es geht um ein neues Projekt. Die Tür geht auf und Werner Bab, ein grauhaariger älterer Mann in schwarzer Jacke, betritt den Raum. »Guten Tag, Christian!«, sagt er und gibt dem jungen Mann die Hand. »Hallo, Herr Bab!« Werner Bab setzt sich auf seinen drehbaren Bürosessel hinter den Schreibtisch. Vor ihm steht eine Kundenkartei zum Blättern. Werner Bab könnte Christian Enders Großvater sein. Doch die beiden kennen einander erst seit zweieinhalb Jahren.
Damals war Christian, der inzwischen an seiner Doktorarbeit in Philosophie schreibt, noch Student und jobbte im Berliner Jüdischen Museum. Er hatte die Arbeit eher zufällig gefunden, eigentlich ging es in erster Linie darum, Geld zu verdienen. Doch durch Gespräche mit Museumsbesuchern entstand allmählich der Wunsch, einen Schoa-Überlebenden kennenzulernen. Er erzählte seiner Kollegin Heidruth Bab davon, einer Frau im Alter seiner Mutter, und war erstaunt, als sie ihm antwortete: »Ich kann meinen Mann fragen. Er war in Auschwitz.« Schon am nächsten Tag brachte sie sein Einverständnis. Er sei bereit. Christian solle kommen.
Wenige Tage später machte der junge Mann sich auf den Weg zur Wohnung der Familie Bab. Aufgeregt sei er gewesen, erzählt Christian Ender, der sonst so selbstbewußt und gänzlich ohne Scheu auf andere zugeht. »Meine Hände waren feucht.« Er klingelte an der Tür, und seine Kollegin Heidruth öffnete. Dann ging er durch einen verwinkelten Korridor zum Wohnzimmer. Dort saß Werner Bab in einem Sessel. »Ich kam schräg von hinten und sah nur seinen grauen Schopf«, erinnert sich Christian. »Das hätte eine Filmszene sein können.« Der junge Mann zieht seine dunklen Augenbrauen nach oben und hebt die Schultern, als ob es ihn heute noch befremde. Dann habe er Werner Bab begrüßt und sich ihm gegenüber gesetzt. »Ich fand Christian sympathisch, aber so recht wußte ich nicht, was er eigentlich wollte. Also wartete ich ab.« Sehr zugänglich sei Werner Bab nicht gewesen, erinnert sich der junge Mann. »Es fiel mir schwer, die ersten Worte zu finden. Doch schließlich sammelte ich mich und fragte: ›Können Sie mir Ihre Lebensgeschichte erzählen?‹« Und dann redete Werner Bab, als hätte man ein Tor geöffnet. Nach zwei, drei Stunden hörte er abrupt auf. »Ich kann nicht mehr.«
Zum ersten Mal hatte ihn jemand ganz offensiv nach seinen Erinnerungen an die Schoa gefragt. »All die Jahre wußten selbst in meinem engsten Freundeskreis nicht alle, was ich erlebt habe«, sagt der 81jährige heute. Vielleicht sei es falsch gewesen, daß er ihnen nicht davon erzählt habe, meint er nachdenklich. »Aber ich mußte es verdrängen. Sonst hätte ich nicht in Deutschland leben können.« Der alte Mann blickt ins Leere und nickt. In seinem Büro ist es ganz still. Man hört nur, wie draußen vor der Tür einer von Werner Babs Angestellten Wasser in die Kaffeemaschine füllt. Den Autoverkäufern und Mechanikern ist Christian Ender inzwischen gut bekannt. Der junge Mann kommt oft zu ihrem Chef. Seit der ersten Begegnung vor zweieinhalb Jahren sehen die beiden Männer sich fast jede Woche.
Bei Werner Bab haben die Gespräche mit Christan einen Damm gebrochen. Fast sechzig Jahre lang hatte er insgeheim darauf gewartet, erzählen zu können. Eines Tages äußert er den Wunsch, mit Schulklassen zu sprechen. Er habe Angst, daß die Schoa zu schnell vergessen wird, sagt er. Das dürfe nicht passieren. »Dafür war es zu grausam.«
Christian versteht das Anliegen und möchte dem alten Mann, der sich ihm so stark geöffnet hat, gern helfen. »Herr Bab hat ein Recht darauf, der Öffentlichkeit davon zu erzählen«, sagt er. Und damit Werner Bab nicht jeder Schulklasse von neuem sein ganzes Leben erzählen muß, entsteht die Idee, einen Dokumentarfilm zu drehen, den die Schüler vor dem Gespräch anschauen. Christian, der einst Ministrant und Pfadfinder war, ist voller Elan. Er kauft sich eine Kamera, eine zweite borgt er sich im Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Uni. Dort hat der Student ein Semester zuvor ein Videoseminar besucht.
Damit möglichst viele Menschen von Werner Babs Schicksal erfahren, läßt Christian den Film in 8 Sprachen untertiteln, darunter auch Türkisch. »Die Türken sind die größte Minderheit in Deutschland. Wer hier lebt, muß von der Schoa wissen.« Er läßt 2.000 Exemplare pressen, sein Vater und seine Mutter zahlen die Rechnung. »Eine große Leistung von ihnen«, sagt der junge Mann. »Denn meine Eltern sind nicht reich. Ich bin ein Arbeiterkind.« Jeder Interessierte, so Enders Plan, soll die DVD kostenlos bekommen. Der junge Mann hofft, daß die Schüler sie in der Familie und im Freundeskreis weitergeben. Werner Bab bezweifelt, daß sie das tun. »Warum soll man nicht ein paar Euro dafür verlangen?« Schließlich habe Christian doch auch große Ausgaben. »Man sollte so etwas nicht verschenken. Denn viele denken, was nichts kostet, ist nichts wert.« Christian sei Idealist, sagt Werner Bab und lacht. »In meiner Jugend war ich das auch.«
Anfang 2005 ist die DVD fertig. Ihr Titel: »Die Zeitabschnitte des Werner Bab«. Im Vorspann zu dem Film liest man einen Ausspruch des Baal Schem Tov, der ebenso hätte auch von Werner Bab sein können: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«
Werner Bab wird am 2. Oktober 1924 in Oberhausen im Rheinland geboren. 1929 zieht die Familie nach Berlin. Als er acht ist, lassen sich die Eltern scheiden, und die Mutter zieht mit ihm nach Schneidemühl, eine Stadt rund 80 Kilometer nördlich von Posen. Nur knapp drei Jahre bleibt Werner in der Stadt, dann wird es in der Schule unerträglich für ihn. »Ich wurde jeden Tag geschlagen.« Um ihn vor antisemitischer Gewalt zu bewahren, schickt ihn seine Mutter nach Stettin auf ein jüdisches Internat. Doch nach der Pogromnacht im November 1938 findet dort kein Unterricht mehr statt. Werner Bab geht zurück nach Berlin, zu seinem Vater. Der neue Mann der Mutter sitzt in der Zwischenzeit einige Wochen im KZ Sachsenhausen und wird nur unter der Maßgabe auszuwandern entlassen. Infrage kommt allein Shanghai, einer der wenigen Orte, der noch jüdische Flüchtlinge ohne Visum aufnimmt. Tagelang stehen sie in Berlin am Reisebüro an, um Schiffskarten zu bekommen, erinnert sich Werner Bab. Sie wissen, das Geld reicht nur für drei Passagen: für die Mutter, ihren neuen Mann und Werners Halbschwester, die Tochter aus der zweiten Ehe der Mutter. Werner Bab bleibt in Deutschland. Er ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Man merkt, daß er darüber nicht gerne spricht. »Was hätte man machen können?«, fragt er – und gibt die Antwort gleich selbst: »Man konnte nichts machen.«
1939 wird Werner Bab dienstverpflichtet. Er muß Kunstharz pressen in einer Fabrik in Kreuzberg. Als dort im Laufe der Wochen immer weniger Leute zur Arbeit erscheinen, sagt eines Tages der Vorarbeiter zu ihm: »Werner, du mußt was machen, für dich ist hier kein Bleib mehr in Deutschland.« Also flieht er 1942 aus Berlin und versucht, in die Schweiz zu gelangen. Doch an der Grenze verhaftet ihn die Gestapo, und man bringt ihn nach Auschwitz. Durch glückliche Umstände wird er zum Hundepflegen abkommandiert. Der damals 20jährige muß sich um die Tiere der höheren SS-Offiziere kümmern, später verrichtet er Reinigungsdienste in der Villa des berüchtigten Lagerkommandanten Rudolf Höss. Weil er Zugang zu besserer Nahrung hat, übersteht er im Januar 1945 den Todesmarsch nach Mauthausen und Ebensee. Dort befreien ihn am 6. Mai 1945 die Amerikaner.
1948 sieht Werner Bab seine Mutter in San Francisco wieder. Sie hatte in Shanghai überlebt und war 1946 in die USA ausgewandert. Ob er ihr von Auschwitz erzählt habe, möchte Christian wissen. »Nicht viel«, antwortet Werner Bab. Sie habe es in Shanghai auch schwer gehabt«, sagt er. Doch dann verdunkeln sich die Gesichtszüge des alten Mannes. »Shanghai war nicht Auschwitz«, sagt er. »Sie wußte nicht, was Auschwitz war. Und ...«, er stockt, »das kann man nicht erzählen.«
Doch eben das hat Werner Bab in den vergangenen zwei Jahren reichlich getan: in vielen Schulen und auch vor Erwachsenen. Demnächst wird das erste Gespräch mit Schülern in Neukölln stattfinden, einem Berliner Stadtbezirk, in dem besonders viele muslimische Migranten leben. »Das alles hat Christian organisiert«, sagt Werner Bab mit jenem Stolz in den Worten, wie er Großvätern eigen ist, wenn sie von den Erfolgen ihrer Enkel sprechen. Es könne ja nicht angehen, entgegnet der junge Mann, daß ein 80jähriger die Schulen abklappere und sagt: »Ich möchte ihren Schülern mal von Auschwitz erzählen.«
Um für ihre Arbeit besser Spenden und Fördermittel zu akquirieren, gründeten die beiden Männer im vergangenen Herbst gemeinsam mit einigen Freunden und Verwandten den Verein »imdialog!«. Doch nur wenige Spendenanfragen waren erfolgreich. Die meisten Unternehmen berufen sich darauf, in den Zukunftsfonds der Zwangsarbeiterstiftung eingezahlt zu haben. Der allerdings sieht sich nicht in der Lage, den kleinen Verein bei seinen Zeitzeugengesprächen zu unterstützen. Christian Ender ist verärgert. »Es ist traurig zu sehen, wie sich die Katze in den Schwanz beißt.« Werner Bab hingegen, der über 50 Jahre mehr Lebenserfahrung verfügt, meint lakonisch: »Ich wundere mich nicht mehr.«
Vor einigen Wochen erhielt der 81jährige das Bundesverdienstkreuz. »Das finde ich toll. Ich fühle mich irrsinnig geehrt«, sagt er, und seine Augen leuchten, als sei er Anfang 20 und frisch verliebt. »Aber eigentlich hätten wir beide es bekommen müssen.«

Schulen und andere interessierte Einrichtungen können über Christian Ender ein Zeitzeugengespräch mit Werner Bab vereinbaren, Telefon 0176 -24100451.
www.imdialog-ev.org

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