Hannah Pick-Goslar wirkt zufrieden. Jetzt kann sie doch noch eine Kuckucksuhr nach Israel mitnehmen. So hatte sie es sich vorgenommen. Die Kuckucksuhr ist ein Mitbringsel für ihre Urenkelkinder.
Aus purem Zufall hat ihr Taxi, das sie vom Frankfurter Bahnhof zum Rathaus fahren sollte, vor einem Souvenirgeschäft gehalten. Schon seit fünf Tagen ist die 81-Jährige in Deutschland unterwegs, war unter anderem im KZ Bergen-Belsen, Berlin und in Eschwege, ohne aber die Zeit gehabt zu haben, Geschenke zu besorgen. Jetzt lässt sie es sich trotz eines bevorstehenden Termins nicht nehmen und schaut sich im Geschäft um. Sein Angebot orientiert sich an Wünschen ausländischer Touristen, die als Erinnerung an Deutschland Bierkrüge, Nussknacker und eben auch Kuckucksuhren kaufen.
Freundschaftsdienst Hannah Pick-Goslar ist aber keine Touristin, »kommt nicht auf Ferien nach Deutschland«, wie sie ein paar Stunden später ihren Zuhörern erklären wird. In Frankfurt war sie zuletzt vor 50 Jahren – auf Durchreise. Diesmal ist sie wegen der Gedenkfeier zu Anne Franks Geburtstag hier. An diesem 12. Juni hätte Anne 80 Jahre alt werden können, wäre sie nicht als 15-Jährige von den Nazis ermordet worden. Hannah Pick-Goslar war Annes beste Freundin. Als solche spricht sie seit 17 Jahren immer wieder vor Publikum. Sie ist eine Zeitzeugin, die auf Einladung kommt, um davon zu berichten, was Anne widerfuhr und wie sie selbst mit ihrer zwölf Jahre jüngeren Schwester das KZ Bergen-Belsen überlebte. »Ich will«, sagt Hannah Pick-Goslar mit resolut klingender Stimme, »ich will, dass das alle hören und dass alle zuhören.« Von diesem »alle« nimmt sie Juden aus, denn »sie kennen die Geschichte«, erklärt die alte Dame.
Diesmal hat sie auf Einladung der Anne-Frank-Schule in Eschwege gesprochen. Sie hat in Berlin an einer Gedenkfeier teilgenommen und ist tags darauf morgens um halb fünf aufgestanden, um mit dem Zug nach Frankfurt zu fahren. Die Strapazen der vergangenen Tage machen ihr zu schaffen. Während im Frankfurter Römer lange Reden gehalten werden, nickt Hannah Pick-Goslar immer wieder ein. Ein paar Stunden später, in Wiesbaden, scheint die Müdigkeit verflogen zu sein. Zeit zum Ausruhen hatte sie kaum. Für eine knappe halbe Stunde kann sie sich in ihr Hotel zurückziehen.
Zuvor haben sich Hannah Pick-Goslar und ihr Enkel Benny von einer Hotelmitarbeiterin zeigen lassen, wie sie am Freitagabend nach dem Gottesdienst in der nahe gelegenen Synagoge das Hotel ohne Chip-
karte betreten können, also ohne Strom zu nutzen. Die 81-Jährige ist eine fromme Jüdin und trägt stets einen Hut, um ihre Haare zu bedecken. Den Rückflug nach Israel hat sie für Sonntag buchen lassen, weil sie am Schabbat nicht reist. Und weil das Wiesbadener Hotel kein koscheres Es
sen serviert, wurde ein Catering in Frankfurt beauftragt, die Gäste zu versorgen.
Kurz nach 15 Uhr beginnt das Zeitzeugengespräch im Wiesbadener Rathaus. Die Lippen sind in Altrosa geschminkt, die Haut mit Makeup aufgefrischt und die Fingernägel perlmuttfarben lackiert – so sitzt sie mit Hut auf einem Sessel mit ho-
her Rückenlehne und spricht ins Mikrofon.
In ihrem Vortrag taucht die Kuckucksuhr natürlich nicht auf. Sie gehört nicht zum Inhalt des Zeitzeugengesprächs. Dass diese Zeitmesser in Israel sehr beliebt sind, erzählt sie auf der Fahrt von Frankfurt nach Wiesbaden. Für ihre jüngere Schwes-
ter gäbe es keinen Grund etwas zu kaufen, erzählt Hannah Pick-Goslar den Zuhörern in Wiesbaden. Ihre Schwester kaufe nie etwas bei ihren Reisen in Deutschland und wolle auch nichts in ihrem Zuhause aus diesem Land haben.
Befremden So streng ist Hannah Pick-Goslar nicht mit ihrem ehemaligen Heimatland. Nur: Hier leben, das würde sie auf keinem Fall. Und dass Juden in diesem Land bleiben, kann sie nicht verstehen. Kontakt zu ihnen hat und sucht sie nicht. Sie reise ja auch nicht zu diesem Zweck hierher, antwortet Hannah Pick-Goslar auf die Frage, was sie hier an jüdischem Leben wahrnehme. Und energisch fügt sie hinzu: »Sie sollen alle nach Israel kommen.«
Die KZ-Überlebende redet am liebsten vor großem Publikum. Wenn sie schon von so weit anreist, dann möchte sie, dass ihr »so viele Menschen wie möglich zuhören«. Von »intimen Gesprächen« , zu de-
nen sie eingeladen wird, hält Hannah Pick-Goslar nichts, sie habe doch auch »nichts Intimes« zu berichten.
Verweigerung Hannah Pick-Goslar will keine Nähe. Die Distanz zu ihren Zuhörern ist auch zu spüren, wenn sie das Wort an sie richtet. In Zwiegesprächen, die nach dem Vortrag in Wiesbaden vor allem Ältere mit ihr suchen, wirkt sie sehr zurückhaltend. Hannah Pick-Goslar lässt sich nicht ein auf die Emotionen derer, die beschämt sind ob der Gräueltaten der Nazis, und mit zitternder Anteilnahme über »das, was un-
ser Volk ihrem Volk angetan hat«, sprechen. Nach dem Vortrag setzt sich eine grauhaarige Dame zu Hannah Pick-Goslar und spricht sie mit Tränen in den Augen an. Die 81-Jährige blickt in eine andere Richtung und wechselt das Thema.
Und als sich jemand bei ihr für den »schönen Vortrag« bedankt, verzieht Hannah Pick-Goslar das Gesicht. Sie ist alles andere als erfreut über dieses Kompliment. »Schön«, sagt sie, »schön war nichts an dem, was ich berichte.«