von Thomas Meyer
Offiziell gilt der 12. Januar 1906 als Geburtstag des Philosophen Emmanuel Levinas. Nach anderer Rechnung war es der 30. Dezember 1905. Levinas’ Geburtsstadt Kaunas in Litauen gehörte, als er zur Welt kam, zum russischen Zarenreich, wo der gregorianische Kalender galt. Auch über die Schreibweise seines Namens – Levinas oder Lévinas – herrscht keine Einigkeit, und das obwohl Levinas einmal eine Abhandlung mit dem Titel Eigennamen verfaßt hat.
Den Akzent auf dem e erwarb der Philosoph in Frankreich. Dorthin war er 1923 nach dem Abitur gegangen, um an der damals besten französischen Universität in Straßburg zu studieren. 1928/29 wechselte er nach Freiburg, wo er die letzte Vorlesung Edmund Husserls und die erste Martin Heideggers hörte. Levinas’ frühe Texte zu Husserl und Heidegger bestimmten maßgeblich die erste Rezeptionswelle der deutschen Existenzphilosophie in Frankreich. Ein bloßes Referieren fremder Positionen waren diese Arbeiten nicht. Liest man sie heute, erkennt man deutlich, wie sehr hier jemand versucht, einen dritten, einen eigenen Weg zu gehen.
Dieser Weg wurde, wie fast alle europäisch-jüdischen Lebensentwürfe im 20. Jahrhundert, durch den deutschen Nationalsozialismus zerstörerisch mitbestimmt. Schon 1934 hatte Levinas als einer der ersten Philosophen begonnen, sich mit dem neuen Phänomen auseinanderzusetzen. In seinem in der katholischen Zeitschrift Esprit veröffentlichten Text Über den Hitlerismus schrieb er: »Hitlers Philosophie zielt auf Einfaches und Grundlegendes. Doch die elementare Gewalt, mit der die in ihr gärenden primitiven Kräfte plötzlich zum Ausbruch kommen, bringt mit einem Schlag auch ihre ganze erbärmliche Phrasenhaftigkeit an den Tag. Sie bringen das Heimweh zum Bewußtsein, das tief in der deutschen Seele schlummert. Der Hitlerismus ist mehr als eine Seuche oder eine Verwirrtheit des Geistes; er ist das Erwachen elementarer Gefühle. Und genau deshalb wird er als philosophisches Phänomen interessant – und schrecklich gefähr- lich. (...) Der Nationalsozialismus stellt die Prinzipien der Zivilisation als solche in Frage.« Die Analyse wurde nicht gehört, nur von wenigen, wie Vladimir Jankélévitch, ernst genommen.
Den Krieg überlebte der französische Staatsbürger Levinas als Soldat in einem deutschen Kriegsgefangenlager, seine Frau und seine Kinder wurden durch Freunde vor der Vernichtung bewahrt. Seine Angehörigen in Litauen wurden fast alle Opfer der Schoa.
Nach 1945 verzichtete Levinas lange Zeit auf die sich ihm bietende Universitätslaufbahn. Stattdessen widmete er sich der Ausbildung jüdischer Lehrerinnen und Lehrer für das jüdische Bildungswerk Alliance Israélite Universelle, deren Institut in Paris-Auteuil er leitete und in deren Gebäude er wohnte. Gleichzeitig gehörte er zum Umkreis eines privaten Seminars des Philosophen Jean Wahl, der ihn schließlich überreden konnte, sich zu habilitieren. Levinas wurde Professor und lehrte an den Universitäten von Poitiers und Nanterre sowie an der Sorbonne, wo er 1976 emeritiert wurde. Von 1960 bis 1991 war er regelmäßiger Teilnehmer eines Kreises prominenter französisch-jüdischer Intellektueller, vor denen er Vorträge aus seinen intensiv betriebenen Talmud-Studien hielt. Levinas war nicht nur Jude der Herkunft nach, das Judentum spielte eine zentrale Rolle in seinem Denken. Das muß gerade in Deutschland betont werden, wo lange Zeit die Auseinandersetzung mit seinem Werk in ein allzu christliches Licht getaucht wurde.
Obwohl sich Levinas nie in den Vordergrund drängte, sondern eher die Rolle des äußerst strengen Familienvaters der französisch-jüdischen Philosophenszene übernahm, wurde er zur Berühmtheit. Er philosophierte mit Papst Johannes Paul II. und war ein begehrter Interviewpartner in den Medien. Am 25. Dezember 1995 starb Levinas hochgeehrt 18 Tage vor seinem 90. Geburtstag. Jacques Derrida, sein klügster Interpret, Kritiker und guter Freund, setzte ihm 1997 mit einer buchlangen Reflektion zu dem vieldeutigen Wort Adieu ein beeindruckendes Denkmal.
Levinas’ Denken kreiste um die radikal gedachte Verantwortung für den Anderen – »vom Sein zum Seienden (...) und vom Seienden zum Anderen«. Sein deutscher Übersetzer Frank Miething hat diese Philosophie mit einem Zitat aus Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasov beschrieben: »Jeder ist verantwortlich für alle anderen, jeder ist schuldig und ich mehr als alle anderen.«
Levinas stand in der Tradition der Bewußtseinsphilosophie und deren Erneuerer. Der zentrale Begriff des »Seins« sollte wieder Ausgangs- und Zielpunkt philosophischer Reflexion werden. Martin Heidegger war dabei der prominenteste Verfechter einer wiederherzustellenden »Ein- heit des Seins«, mit der er sich gegen die These der jüdischen Philosophen Hermann Cohen und Ernst Cassirer wandte, das Sein sei zum Problem« geworden. Hier knüpfte Levinas in seinen großen Werken Vom Sein zum Seienden (1947), Die Spur des Anderen (1947/67) und in seiner epochalen Studie Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht (1974) an und revolutionierte zugleich jene Tradition.
Sein, Seiendes, der Andere. Bei Levinas gewann alles eine ethische Würde, weil nach seinem Verständnis Ethik nach Auschwitz nicht mehr als bloße Pflicht-, Sollens- oder normative Ethik gedacht werden konnte. Humanismus war für ihn nach der Schoa nicht länger nur ein philosophisches Angebot, sondern eine Überlebensfrage der Menschheit. Dabei war Levinas, anders als in Deutschland oft in gut- gemeinten Artikeln zu lesen war, kein Denker der Versöhnung, sondern orientierte sich an der Schärfe und Schroffheit des klassischen griechischen Denkens. Seine Botschaft war nicht im Flüsterton vermittelbar.
Levinas’ Denken des Anderen ist eine der großen philosophischen Leistungen des 20. Jahrhunderts. Heute gibt es kaum eine philosophische Publikation mehr, die ohne die Levinas-Begriffe »der Andere«, »Antlitz« und »Verantwortung« auskommt. Kein Aspekt seines Lebens und Denkens, der nicht Gegenstand umfangreicher Spezialanalysen wäre. Israel, zu dem sich Levinas stets und emphatisch bekannte, feiert ihn in dieser Woche im Jerusalem Theatre mit politischer Prominenz und einer viertägigen internationalen Konferenz. Von dort aus zieht die akademische Karawane zum Lobe des Jubilars anschließend um den ganzen Globus.