von Tobias Kaufmann
Daniel Hanoch Wagner ist es gewöhnt, in ratlose Gesichter zu blicken. Das ist auch kein Wunder, wenn man die Titel der Arbeiten liest, die der Forscher des Weizmann Instituts in seiner Publikationsliste im Internet verzeichnet hat. »Characterization of Statistical Failure in Composite Monolayers by Video Microphotography« zum Beispiel, oder »Stochastic Concepts in the Study of Size Effects in the Mechanical Strength of Highly Oriented Polymeric Materials«. Wagner lächelt milde, wenn sein Gegenüber zugibt, überfordert zu sein. Dann erklärt er es nochmal.
Der 53jährige forscht seit Jahrzehnten an natürlichem Material: Knochen, Holz, Zähne. Ihn und seine Kollegen interessieren die Zellen und Zellenverbindungen, die solchen und anderen Stoffen ihre Struktur geben. Was hält sie zusammen, was macht sie stabil, wann werden sie brüchig? Es geht darum, zu verstehen, welche Eigenschaften die stärksten Materialien haben – ein wertvolles Wissen in Zeiten, in denen Mechaniker auf der ganzen Welt immer kleinere, leichtere und stabilere Werkstoffe verarbeiten. »Die Hälfte meiner Studenten arbeiten an Nanoröhren«, sagt Wagner, an jenen Winzigstteilchen also, die das Konstruktionsmaterial der Zukunft sein sollen. Die andere Hälfte beschäftigt sich mit biologischem Material.
Wir sitzen in einem Imbiß im Berliner Ostbahnhof. Wagner ist auf dem Weg vom Max-Planck-Institut in Potsdam nach Polen. Er hat Bratkartoffeln bestellt und spricht beim Essen auf eine Art über Zellverbindungen, daß auch ein Laie sofort fasziniert ist. Vielleicht liegt das an seiner Vielseitigkeit. Die Wissenschaftler früherer Zeiten, die in mehreren Fächern ausgebildet waren und sich für fast alles interessierten, dienen ihm als Vorbild. Auf seiner Homepage sind neben Informationen zu seinem Fachgebiet am Weizmann Institut auch weitere Interessen ausführlich beschrieben: Fußball, Jazz der 40er und 50er Jahre, Ahnenforschung. Fußball, die große Leidenschaft während seiner Jugend in Belgien, ist jedoch erkennbar ein Hobby, Jazz ebenso. Die Genealogie dagegen betreibt er mit wissenschaftlicher Akribie. »Die Erforschung meiner Familiengeschichte erfüllt mich fast genauso wie meine Forschung im Institut«, sagt Wagner. Er ist 1953 in Tel Aviv geboren, lebte von 1956 bis 1975 in Brüssel und ist seit der Rückkehr nach Israel als Student und Forscher viel herumgekommen: New York, London, Sheffield, Lyon, Rennes, Hamburg, Dresden, Buenos Aires sind einige, aber nicht alle Stationen. Wagners Familie stammt aus Polen. Viele Verwandte sind im Holocaust ermordet worden. Auf der Suche nach der Geschichte seiner Großmutter mütterlicherseits, Esther Potaznik, stieß Wagner vor Jahren auf den jüdischen Friedhof von Zdunska Wola in der Nähe von Lodz. Die Restaurierung des Friedhofs ist heute die große Leidenschaft des Physikers.
Wagner schiebt den Teller zur Seite und holt sein Laptop aus dem Koffer. Seine Augen leuchten, während er von dem Projekt erzählt. Nur ab und zu schaut er auf die Uhr, damit er den Zug nach Polen nicht verpaßt. In Zdunska Wola leben heute knapp 45.000 Menschen. Juden sind nicht darunter. Doch bis die Wehrmacht den Ort im Zweiten Weltkrieg eroberte und einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung ermordete, gab es dort mehrere blühende Gemeinden, orthodoxe und liberale. Auf dem 1828 eröffneten jüdischen Friedhof wurden ihre Mitglieder begraben. Das letzte Grab datiert von 1946. »Als wir den Friedhof zum ersten Mal besuchten, war das Eingangstor kurz davor, zusammenzubrechen. Die Gräber waren verwittert und zugewachsen, es sah aus wie im Dschungel«, erzählt Wagner. Gemeinsam mit Studenten aus der Region, mit Unterstützung der Verwaltung und einer Gruppe von Juden, die aus dem Ort stammen und heute in Israel leben, machte sich Wagner daran, das Areal systematisch zu erforschen. »Wir haben es in Sektoren aufgeteilt. Dazu mußten wir Pflöcke einschlagen, Seile spannen und die Wände markieren.« Nach und nach richteten der Physiker und sein Team umgestürzte Grabsteine wieder auf. Teilweise waren die Platten regelrecht im Boden versunken und mußten vorsichtig freigelegt werden. Dabei entdeckten die Forscher einen regelrechten Schatz. »Als wir die Oberflächen freikratzten, merkten wir, daß viele der Grabsteine farbig verziert und bemalt waren. Das ist für jüdische Friedhöfe in Osteuropa absolut ungewöhnlich.« Blau schillernde Blumen, leuchtend rote und gelbe Kronen, farbige Löwenköpfe – die kunstvoll gearbeiteten traditionellen jüdischen Familienmotive raubten den Forschern den Atem. Wagner schiebt sein Laptop über den Tisch, klickt durch tausende Fotos der Grabsteine. Zu jeder Inschrift, jedem Symbol kann er eine Geschichte erzählen. 2.384 Gräber haben sie bisher entdeckt, ursprünglich hatten sie mit 800 gerechnet. Mit dem Ausgraben und Restaurieren der Steine ist die Arbeit von Wagners Team noch lange nicht beendet. Die Forscher versuchen, die Namen zu entziffern und mit Informationen abzugleichen, die sie über die Gemeinde haben.
Nach und nach sind zwei Listen mit Geburts- und Sterbedatum der Menschen entstanden, die auf dem Friedhof liegen. Eine ist nach Familiennamen sortiert, die andere, längere, nach den unter Polens Juden einst eher üblichen Vatersnamen in hebräischer Form mit »Ben« oder in polnischer Form mit der Endung »icz«. »Wir möchten ein Buch über den Friedhof und diese Menschen machen, damit sie nicht vergessen werden«, sagt Wagner, als er den Laptop zuklappt und sich Richtung Gleis verabschiedet. Zudem soll der Friedhof erhalten und wieder öffentlich zugänglich gemacht werden – ein hartes Stück körperlicher Arbeit. Und eine Frage des Materials. Aber damit kennt sich Daniel Wagner zum Glück aus.