Als eine Art »Kettenglied« be-
schreibt Polina Flihler ihre Ar-
beit. Sie kümmert sich um diejenigen jüdischen Zuwanderer, die in einer neuen Umgebung Halt finden wollen. »Noch vor Jahren war es ein Strom, heute sind es Tropfen, die nach Deutschland kommen«, sagt die 48-Jährige mit einem traurigen Lächeln. Einst war auch sie eine Einwanderin, kam aus der Ukraine. Beide Eltern sind Juden, sie stammen aus Bessarabien. Aufgewachsen ist Polina Flihler in Czernowitz. Seit zwölf Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Erfurt. Sie kennt die Probleme der russischstämmigen jüdischen Zuwanderer. Heute hilft sie anderen, diese zu überwinden und den Start in der neuen Umgebung zu erleichtern.
alltag Polina Flihler ist Sozialarbeiterin. Jede Woche pendelt sie zwischen Erfurt und Magdeburg, ihrem Arbeitsort. Dort hilft sie jüdischen Einwanderern, kümmert sich um Sprachkurse, beantwortet die Fragen nach Arbeitsplatz- und Wohnungssuche, gibt Hilfe und Hinweise für den Alltag, koordiniert Behördengänge und be-
gleitet die Menschen zu den Ämtern.
Wenn Polina Flihler ihren Arbeitstag geschafft hat, dann ist sie Studentin der Fachhochschule Erfurt. Tag für Tag lernt sie dafür, studiert die Bücher und Lehrtexte der Dozenten. Wenn alles gut geht, wird sie in einem Jahr ihren Abschluss haben als Bachelor of Art für Soziale Arbeit. Bis dahin wird sie wenig Freizeit haben, denn diese gehört komplett dem Studium: »Abends geht es ab ins Internet«, erzählt sie. »Das Lehrsystem wird angeschaltet, dann wird gechattet. Im Netz ist auch der Professor, die Mitstudenten sind es sowieso.« Die Studierenden sind auf ganz Deutschland verteilt. Die meisten arbeiten tagsüber in einer jüdischen Einrichtung.
Anspruch Mit-Initiator des berufsbegleitenden Studiums ist Professor Doron Kiesel aus Frankfurt. Sein Anliegen ist es, die Studenten professionell auszubilden, da-
mit sie später speziell für jüdische Menschen Sozialarbeit leisten können, egal ob in der Altenpflege oder in der jüdischen Gemeinde, betont er.
Polina Flihler ist dankbar, »so wie wir alle dankbar sind für die Chance, die wir erhalten«, sagt sie. Auch wenn das Lernen sie sehr anstrengt. Sozialrecht und Familienrecht muss sie derzeit pauken. Kommende Woche stehen vier Prüfungen an. Die will sie schaffen, »Unbedingt«, sagt die ausgebildete Bauingenieurin und blickt zu-
versichtlich durch die modische rot umrandete Brille. Es ist eine sympathische und aktive Frau, eine, der die Sorgen der anderen nicht verborgen bleiben. Sie kennt selbst die Schwere des Alltags und meistert bescheiden ihre Aufgaben.
Weil die Nachfrage für das Studium sehr hoch ist, überlegen nun die Initiatoren, ob es ab dem Wintersemester 2010 einen neuen Studiengang geben soll. »Derzeit haben wir einen Antrag gestellt«, sagt Kiesel. Er ist optimistisch und vor allem überzeugt von den Vorteilen der künftigen Sozialarbeiter, die mehrere Sprachen beherrschen, die Kulturen und Strukturen kennen und hier in Deutschland helfen, das jüdische Leben wieder lebendig zu machen.
So wie Polina Flihler. In Magdeburg, Dessau, Wittenberg und in Halle ist sie unterwegs. »Zu mir kommen Leute mit den unterschiedlichsten Problemen, von der Frage nach der Krankenkasse bis hin zum Training für eine erfolgreiche Bewerbung«, sagt sie. Sie sei gut akzeptiert bei den Ämtern, Probleme gebe es kaum. Sie sehe die enormen Anforderungen an diejenigen, die hierherkommen. »Die meisten sind akademisch gebildet, aber ihre Abschlüsse werden nicht anerkannt«, bedauert Polina Flihler. »Sie bekommen ihre Chancen, die Hürde ist jedoch die Sprache.«
Ambitionen Sie selbst bemüht sich, vor allem die jüdischen Traditionen in den Alltag mit anderen Menschen zu integrieren. »Jeder Mensch muss seine Wurzeln kennen, sonst ist er wie ein Baum ohne Wurzeln. Jeder Wind kippt ihn um.« Für eine starke Basis und eine starke Gemeinschaft will sie sich als Sozialarbeiterin einsetzen. »Um das Gesicht der Gemeinde zu spüren, muss man dort leben.«
Auch mit Holocaust-Überlebenden ar-
beitet sie und kennt die Traumata und Spätfolgen der Erinnerung. Denn oft hat sie mit alten Menschen zu tun. Die junge Generation kennt diese Probleme nicht, weiß Flihler. Das sehe sie an ihrer Tochter, die derzeit an der Universität Jena unter anderem Erziehungswissenschaften studiert. Eines wird sie als Sozialarbeiterin immer beachten: »Man muss professionell sein, man muss unsere jüdische Zugehörigkeit und Tradition leben, ich nenne es Menschlichkeit, die wir in unserer Arbeit einsetzen und moralische Prinzipien.«
Später, das heißt, nach dem Abschluss des Studiums, würde sie am liebsten noch mehr arbeiten, sagt die 48-Jährige verschmitzt. Am liebsten in Erfurt. »Ich fühle mich total wohl hier.« Die Stadt sei ihrer ehemaligen Heimatstadt Czernowitz sehr ähnlich mit »der Größe, den Gebäuden, der Einwohnerzahl«. Zurück dorthin möchte sie nicht, sagt sie nachdenklich, sondern hierbleiben. Es ist ihre neue Heimat, in der sie sich eine Existenz geschaffen, einen Studienabschluss mit viel Kraft erarbeitet hat und die Anerkennung von Menschen bekommt, die einst wie sie, mit wenigen Dingen und großen Hoffnungen kamen.