von Tobias Kaufmann
Das Timing ist perfekt. Charlotte Knobloch hat in ihrem Leben alles, was sie beeinflussen konnte, Schritt für Schritt gemacht. Nachdem ihre drei Kinder aus dem Haus waren, hat sie den Sprung auf die Funktionärslaufbahn der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern gewagt. 1985 wurde sie deren Präsidentin. 1997 kletterte die Münchnerin eine Stufe höher und wurde als erste Frau Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Später folgte die Wahl zur Vizepräsidentin des Europäisch-Jüdischen Kongresses.
In den vergangenen Jahren dann widmete sich die Chefin der IKG mit aller Kraft dem Aufbau des neuen Jüdischen Zentrums am Münchner Jacobsplatz – ein selbstbewußtes Projekt einer gefestigten jüdischen Gemeinde im Herzen einer deutschen Metropole. Sie überzeugte ihre Gemeinde, sie überzeugte die Stadt, sie überzeugte den Freistaat Bayern. Jetzt steht das Gemeindezentrum kurz vor der Vollendung. Im November soll es eingeweiht werden.
Charlotte Knobloch hat also wieder etwas mehr Zeit. Und sie hat den nächsten, den größten Schritt gemacht: Sie ist an der Spitze des Zentralrats der Juden angekommen, wiederum als erste Frau. Letzteres bedeutet ihr zwar etwas, aber weniger, als manche sich wünscht. »Ich bin keine Feministin, und ich will nicht hoffen, daß ich als Frau behandelt, sondern aufgrund meiner Leistung beurteilt werde.«
Das Engagement für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist ihr eine Herzensangelegenheit, denn Knobloch gehört zwar noch zu jener Generation, die die Schrecken des Holocaust selbst erlebt hat. Zugleich gehört sie jedoch zu jenen Juden, die in der Bundesrepublik nicht auf gepackten Koffern saßen, sondern sich hier stets aufgehoben, sicher und zu Hause fühlten. »Ich bin geborene Münchnerin, ich bin Deutsche, ich bin Bürgerin hier in meiner Heimat«, sagt sie. Obwohl Knobloch gegen antisemitische und fremdenfeindliche Tendenzen klare Worte findet, die bei der politischen Elite im Land selten ungehört verklingen, scheint sie noch selbstverständlicher Deutsche zu sein, als es ihr verstorbener Vorgänger war. Die Zweifel an der neuen, alten Heimat, die melancholischen Anflüge, die Paul Spiegel immer wieder einmal trafen, kennt man von Knobloch so nicht.
Charlotte Knobloch wurde am 29. Oktober 1932 geboren. Sie war erst sechs, als in Deutschland die Synagogen brannten. Am 9. November 1938 ging die kleine Charlotte mit ihrem Vater Siegfried Neuland spazieren, die beiden gerieten in eine Razzia der Nazis. »Da kam ein Paar mit Kinderwagen, zog mich von meinem Vater weg und ging mit mir einfach weiter«, erinnert sich Knobloch. Sie hatte die Menschen, die sie aus der Situation retteten, noch nie zuvor gesehen. Ein Gestapo-Mann verhaftete den Vater, ließ ihn aber später wieder laufen – Neuland hatte ihn einmal unentgeltlich als Anwalt vertreten. Aber weder dies noch die Tatsache, daß Neuland im Ersten Weltkrieg für Deutschland an der Front gekämpft hatte, bewahrten ihn vor Deportation und Zwangsarbeit. Daß Charlottes Mutter, die zum Judentum übergetreten war, die Ehe mit Neuland auflöste, um dem Nazi-Terror zu entgehen, hat die heute 73jährige verwunden. »Ich kann meine Mutter verstehen. Jeder, der konnte, versuchte, sein Leben zu retten«, sagte Knobloch einmal vor Jahren. Sie selbst überlebte bei einem früheren Dienstmädchen der Familie, das Charlotte als uneheliche Tochter ausgab.
Nach dem Krieg trafen Vater und Tochter sich in München wieder – und blieben. Wenn es eine Vertreterin des deutschen Judentums gibt, die Schlagworte wie »jüdische Renaissance« oder »deutsch-jüdische Normalität« mit Inhalt füllen kann, dann ist es Charlotte Knobloch. In ihrem neuen Amt kann sie weitere Schritte auf diesem Weg gehen.