von Ellen Presser
Ein ahnungsloser Neunjähriger, Sohn eines SS-Offiziers, lernt jenseits eines KZ-Lagerzauns einen gleichaltrigen jüdischen Jungen kennen und schließt mit ihm Freundschaft. Der Roman Der Junge im gestreiften Pyjama des jungen irischen Autors John Boyne von 2006, auf Deutsch 2007 im S. Fischer Verlag erschienen, ist ausdrücklich als Fabel ausgewiesen, als Dichtung mit einer moralischen Botschaft: Es geht darin um (Kinder-)Freundschaft, Vertrauen, Menschenwürde und Anstand in Zeiten von Judenverfolgung und Massenmord, um Eltern, die ihre Kinder barmherzig oder auch unbarmherzig belügen und sie damit (noch mehr) in Gefahr bringen, um Zuordnungen, die zerfallen oder entstehen, wenn ein Judenstern von der Jacke gerissen oder ein Häftlingsanzug übergestreift wird. Vielleicht nicht gerade der Stoff für Gutenachtgeschichten, trotzdem international ein Bestseller.
Auch Regisseur Mark Herman und David Heyman, den Produzenten der Harry-Potter-Filme, hatte es der Jugendroman angetan. Sie haben daraus einen Film gemacht, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt. Als Bruno (Asa Butterfield) mit seinem Vater (David Thewlis), der schönen Mama (Vera Farmiga) und seiner blond bezopften älteren Schwester Gretel (Amber Beattie) in ein einsam gelegenes, kaltes Haus weit fort von Berlin zieht, weiß er nicht, was dort passiert. »Wenn man Soldat ist, muss man seine Pflicht tun«, sagt sein Vater, was in diesem Fall heißt, ein Konzentrationslager zu befehligen. Dessen Insassen, jenseits des für den Jungen verbotenen Wäldchens, betrachtet Bruno als Bauern, die Pyjamas tragen. Es seien gar keine richtigen Menschen, wird ihm gesagt. Doch die heimliche Begegnung mit dem gleichaltrigen Häftling Schmuel (Jack Scanlon) widerlegt das, auch wenn Bruno nicht versteht, was los ist. Die Nummer 38451 auf Schmuels gestreiftem »Pyjama« hält er für den Teil eines seltsamen Spiels. Klar, dass der achtjährige »Entdecker« mehr erfahren will und wird – um einen hohen Preis.
Jeder Film schafft eine Scheinwelt. Ob sie wie hier in Budapester Locations gefunden oder in Studios, inspiriert von Alain Resnais legendärer KZ-Dokumentation Nacht und Nebel, nachempfunden wurde, sie ist in ihrer blank geputzten Sterilität widerlich überzeugend. »Es musste sich echt und real anfühlen«, wird die Kostümbildnerin Natalie Ward im Presseheft zitiert. Das ist mit einer Mischung aus aufrichtigem Anliegen, Pathos und Generalisierung gelungen. Die Zuschauer in den Vorabvorführungen waren von dem Film gebannt und verharrten nach der Schlussszene wie vom Donner gerührt.
»Es ist vermessen, dass die Schrecken der Konzentrationslager aus heutiger Sicht wirklich begreifbar wären, und dennoch ist es die Pflicht eines jeden Autors, innerhalb dieser Landschaft des Grauens möglichst viel emotionale Wahrheit zu zeigen«, hat John Boyne, der Autor der Romanvorlage erklärt. Der Film nach seinem Buch lässt ahnen, wie die Wahrnehmung der Schoa vielleicht aussehen könnte, wenn die letzten Zeitzeugen verstummt, die Dokumente und das authentische Filmmaterial verblasst sind.