von Matt Siegel
Bevor Tamara Tuuminen mit ihrem Ehemann, einem gebürtigen Finnen, 1978 Moskau verließ, hatte sie sich von ihren jüdischen Wurzeln entfremdet. In den 70er-Jahren in der Sowjetunion »war es gefährlich, jüdisch zu leben«, sagt die 51-jährige Spezialistin für Immunologie und klinische Mikrobiologie, die heute in Helsinki lebt.
Wie hunderten anderer jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gelang es ihr erst in Finnland, zum Judentum zu finden. Die Führer der kleinen einheimischen Gemeinde schätzen, dass eben diese Einwanderer die finnische Gemeinde vor dem Aussterben gerettet haben. Mischehen und die Auswanderung nach Israel hatten bis zum Beginn der 90er Jahre die jüdische Bevölkerung Finnlands dezimiert. Die Gemeinde in Tampere, die drittgrößte des Landes, sah sich 1981 gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Damals schien das Land den Kampf um den Erhalt seiner jüdischen Bevölkerung verloren zu haben.
»Die Zukunft sah nicht gerade rosig aus, denn die Zahl der Gemeindemitglieder sank und sank«, erinnert sich Dan Kantor, Vorsitzender der Gemeinde in Helsinki (JCH). Die JCH unterhält die 100-jährige Synagoge der Stadt, in der die einzige jüdische Schule des Landes untergebracht ist, und betreibt ein koscheres Feinkostgeschäft, ebenfalls einmalig in Finnland.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den frühen 90er Jahren wanderten die meisten Juden nach Israel, in die USA oder nach Deutschland aus. Aber einige hundert Familien gingen nach Finnland.
»Heute haben wir etwa 1.200 Mitglieder. In den 80er Jahren waren es 800«, sagt Kantor. »Und wenn man den Hintergrund der Schulkinder betrachtet, haben etwa 75 Prozent einen Elternteil, der aus der Gruppe der Einwanderer stammt.«
Chabad-Rabbiner Binyamin Wolff aus New Jersey und die JCH stehen an vorderster Front, um sich der aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderten Juden anzunehmen. Chabad sponsert monatliche Versammlungen, und das umfassende schulische Programm der JCH reicht vom Kin- dergarten bis zur zwölften Klasse. Schüler können an der Schule eingeschrieben werden, wenn ein Elternteil jüdisch ist. Beide Elternteile müssen die Bedingung unterschreiben, dass sie für ihr Kind eine jüdische Erziehung wünschen und dass das Kind beim Erreichen des Bar- oder Batmizwa-Alters das Judentum annimmt. Für Jungen ist die Beschneidung vorgeschrieben. Die Schule wird zu 80 Prozent vom Staat finanziert, für den Rest kommen private Geldgeber auf.
Großer Wert wird darauf gelegt, dass die Schüler den Kontakt zu ihrem Ursprung nicht vollständig verlieren. Es gibt Intensivkurse für Kinder, die ohne Finnischkenntnisse anfangen. Es werden aber auch Unterrichtsstunden auf Russisch abgehalten, damit die Schüler ihre Muttersprache nicht verlernen. Zusätzlich zum staatlichen Pflichtlehrplan müssen die Kinder jüdische Geschichte und Hebräisch lernen. »Wir sind mit dieser Methode sehr erfolgreich, die Kinder in ihrer jüdischen Identität zu bestärken und sie gleichzeitig in die finnische Gesellschaft zu integrieren«, sagt Kantor. »Und über die Kinder werden natürlich auch die Eltern besser in die Gemeinde und durch die Gemeinde wiederum in die Gesellschaft integriert.«
Rabbiner Wolff: »Ich möchte den Kindern und Erwachsenden zeigen, dass Jüdischsein Teil unseres Lebens ist und etwas, woran man Spaß haben kann. Wir essen wie Juden, wir machen Geschäfte wie Juden, und wir sitzen mit Freunden zusammen wie Juden. Ich möchte ihnen all diese Möglichkeiten eröffnen.«
Auch Tamara Tuuminen bewegt sich immer noch zwischen zwei Welten. »Sie fühle sich »europäisch, aber mit einem jüdischen Hintergrund« – und, fügt sie mit einem Lachen hinzu, »absolut nicht russisch.« Sie besucht den Gottesdienst an den Hohen Feiertagen und nimmt an der jährlichen Feier teil, die zum Gedenken an die Gründung des Staates Israel in der Synagoge stattfindet. Tamaras Mutter lebt heute in Israel.
Nicht alle Probleme wurden jedoch durch das Hereinströmen der Russen gelöst, im Gegenteil, einige wurden sogar verschärft. Laut Kantor hat der Anteil der Mischehen in den letzten zehn Jahren einen Rekord von 90 Prozent erreicht. Vor einem halben Jahrhundert waren es 50 Prozent.
Doch Kantor hält nichts davon, die Zuwanderer für die vielen Mischehen verantwortlich zu machen. Stattdessen betont er, dass ihr Beitrag zum finnischen Judentum gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. »Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie die Zukunft gerettet haben.«