von Baruch Rabinowitz
Ob er zur WM komme? Marek ist von der Frage so überrascht, das er sie wiederholt. Für den 25jährigen Jurastudenten aus Katowitz ist das unvorstellbar. Die Karten seien sehr schwer zu bekommen, außerdem sind sie viel zu teuer. »Ich kann mir so was leider nicht leisten«, sagt Marek. Statt nach Deutschland zu kommen, um seine Mannschaft zu unterstützen, wird er mit seinen Freunden eine gemütliche Kneipe finden, Zywiec-Bier bestellen und das Spiel vor einem Bildschirm verfolgen.
Marek liebt Fußball – als Zuschauer. Fußballspieler wollte er nie werden, ein guter Rechtsanwalt schon. Sein Vater ist Jude, seine Mutter katholisch. Sie erzogen ihn als Polen. Das Jüdischsein wurde zu Hause nie erwähnt.
Als Marek 18 Jahre alt war, verbrachte er einige Tage bei Bekannten in Warschau. Freitagabend kamen sie plötzlich mit der überraschenden Einladung, in die Synagoge zu gehen. »Ich wußte zwar nicht, was ich dort verloren hatte, aber mein Herz brannte.«
Der Synagogenbesuch hat Mareks Leben verändert. Er fand den Weg zu seinem verlorenen Jüdischsein wieder, zusammen mit vielen anderen Menschen, die ihre jüdischen Wurzeln während des Kommunismus verstecken mußten. Viele ahnten nicht einmal, daß sie jüdische Vorfahren hatten. Aber irgendetwas in diesen Menschen gab keine Ruhe. In der Synagoge fand für viele die Suche nach ihrem verlorenen Teil ein Ende. Auch Marek fing an, regelmäßig zu den Gottesdiensten zu gehen, und schließlich konvertierte er.
So wie damals, als Marek das erste Mal beten ging, ist die einzige nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten gebliebene Synagoge in der Hauptstadt auch heute an jedem Schabbat gut besucht. Einheimische Jugendliche, selbstbewußt auftretende amerikanische Touristen, israelische Gruppen in T-Shirts und kurzen Hosen, Chassidim in langen, schwarzen Kaftanen – alle kommen, um die Auferstehung des polnischen Judentums zu bewundern. Vor der Schoa lebten in Polen über drei Millionen Juden. Allein in Warschau gab es mehr als 300 Synagogen und Bethäuser. Heute, 60 Jahre später, leben in Polen schätzungsweise zwischen 5.000 und 10.000 Juden.
Es sei ein Wunder, daß jüdisches Leben in Polen überhaupt wieder möglich ist, glaubt Janusz, ein 35jähriger Ingenieur aus Bielsko Biala. In Polen gibt es acht Einheitsgemeinden. Sie haben sich unter einem Dachverband zusammengeschlossen. Vor vier Jahren wurde die erste liberale Gemeinde des Landes gegründet: »Beth Warszawa«. Vier Rabbiner – drei in Warschau und einer in Krakau – helfen den Menschen, ihre jüdische Identität zu entdecken und zu leben. Die Gemeinschaft verfügt über mehrere Zeitschriften, koschere Restaurants und jüdische Theater.
In Polen jüdisch zu leben, ist nicht ungefährlich. Hakenkreuze und antisemitische Slogans an Mauern und Bushaltestellen, die jüngsten Skandale, die der radikal-katholische Sender Radio Maryja verursacht hat, und der Anstieg des Rechtradikalismus erschweren den Aufbau des Judentums. Auf die Frage, wie man sich als orthodoxer Jude in Polen bewegt, antwortet ein Mitglied der jüdischen Gemeinde: »Als Jude geht man nicht zu Fuß, man fährt mit dem Taxi.«
Dennoch wollen die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Polen bleiben. Sie fühlen sich mit dem Land stark verbunden, schließlich wurden sie hier geboren und sind von der polnischen Kultur geprägt. »Es ist falsch zu behaupten, daß Polen antisemitischer sei als andere Länder«, sagt Janusz. Auch woanders sei es nicht zu empfehlen, sein Jüdischsein nach außen zu zeigen. Polen ist da keine Ausnahme. Um in Polen ein blaues Auge zu bekommen, muß man nicht unbedingt jüdisch aussehen. »Es ist genauso gefährlich, sich in Lodz mit einem Fanschal von Katowice sehen zu lassen wie mit einem schwarzen Hut«, sagt Janusz. Man mag hoffen, daß es diese Gefahr zumindenst während der Fußballweltmeisterschaft nicht geben wird. Schließlich unterstützen alle Polen ihre Elf.