Bibliothek

Die Rückkehr des Prager Kreises

von Kilian Kirchgessner

Schon die ersten Meter stimmen auf Vergangenheit ein. Verwinkelt ist das große Gebäude in der Prager Altstadt, ein Pater-noster mit knarzenden Holzkabinen verbindet die vielen Etagen miteinander. In gemächlichem Tempo bringt er die Besucher ins zweite Stockwerk: Hier ist eine neue Bibliothek untergebracht, die unter Literaturwissenschaftlern für Aufsehen sorgt.
Es ist nicht die Größe, die das »Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren« so besonders macht. Ein einziges Zimmer auf einer schmucklosen Büroetage reicht aus, um den Bestand der neuen Bibliothek zu fassen, keine 2.000 Bände sind es bislang. Viele von ihnen sind aber so ausgefallen, dass sie selbst in spezialisierten Antiquariaten nicht mehr zu finden sind. Die Bücher sind das Vermächtnis einer vergangenen Kulturepoche: Hier stehen die Werke von Prager Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, die meisten aus jüdischen Fami- lien, deren Muttersprache das Deutsche war. Bis in die 1930er-Jahre hinein hatten sie die Kultur in Böhmen geprägt. Die Berühmtesten unter ihnen gehörten zum »Prager Kreis«: Franz Kafka, Max Brod, Franz Werfel und Egon Erwin Kisch.
Unter den Nationalsozialisten waren ihre und die Werke ihrer meisten Kollegen verboten. Nach 1945 versuchten die Kommunisten dann, alle, auch die literarischen Spuren der deutschsprachigen Vergangenheit Prags zu verwischen. Beinahe wäre ihnen das gelungen. »Im Literaturhaus stehen zahlreiche Titel, die nicht einmal in der tschechischen Nationalbibliothek zu finden sind, sie wurden damals einfach nicht in die dortige Sammlung aufgenommen«, sagt der Prager Germanistikprofessor Milan Tvrdik, der zu den Initiatoren der Bibliothek gehört.
Dass die verfemten Bücher dennoch erhalten blieben, ist Katharina Holzheuer zu verdanken. Von ihr stammen sämtliche Bestände des Literaturhauses. Die gelernte Bibliothekarin, die in einer Kleinstadt nahe Würzburg lebt, fuhr über Jahrzehnte regelmäßig nach Prag, wo sie in Antiquariaten immer wieder literarische Schätze hob, mit nach Hause nahm und in ihrem Wohnzimmer aufbewahrte. Es war eine Art privater Protest gegen die Kulturpolitik des bis 1989 herrschenden Regimes. »Ich fand es unvorstellbar, wie damals unter den Kommunisten eine ganze Epoche aus der Vergangenheit ausradiert werden sollte. Deshalb habe ich angefangen, die Bücher aus dieser Zeit zu sammeln«, erzählt Holzheuer. »Im Laufe der Zeit habe ich gute Kontakte zu den Händlern aufgebaut, die dann immer schon an mich gedacht haben, wenn sie einen neuen Titel in ihre Regale bekamen.« Dass ihre Sammlung eines Tages öffentlich zugänglich wird, hatte sie sich schon lange gewünscht. »Als ich dann vom geplanten Literaturhaus gehört habe, fand ich das eine wunderbare Idee.«
Die Bände, die die bibliophile Deutsche über Jahre hinweg gehortet hatte, sind heute für Germanisten eine wahre Fundgrube. Werke von Ernst Weiß, Ernst Sommer, Johannes Urzidil und Leopold Kompert sind darunter; heute vergessene jüdi- sche Schriftsteller und Intellektuelle, die zu ihrer Zeit eine herausragende Rolle gespielt haben. Oder Oskar Wiener, in dessen Biografie sich die Tragödie einer ganzen Generation widerspiegelt: 1873 in Prag als Untertan der k.u.k. Monarchie geboren, ab 1918 Bürger der ersten Tschechoslowakischen Republik, 1944 als Jude im Lager Theresienstadt ermordet. Bücher des einst populären Autors sind heute Raritäten. »Ich habe viele Jahre lang versucht, einen ganz bestimmten Titel von Wiener zu finden, das Buch Im Prager Dunstkreisberichtet Milan Tvdik. Dutzende Büchereien habe er durchsucht, stets ohne Erfolg.
Fündig geworden ist er erst in der Sammlung von Katharina Holzheuer. Mit anderen deutschsprachigen Prager Schriftstellern und ihren Werken ist es ihm ähnlich ergangen. »Für die deutsch-böhmische Literatur«, sagt der Germanist, »ist das Prager Literaturhaus in der Welt einzigartig.«
Von Katharina Holzheuer kommen die Bücher des Literaturhauses; von Lenka Reinerova stammt die Idee. Die 90-Jährige ist die letzte Überlebende des alten Prager Kreises. Viele der berühmten Autoren hat sie noch persönlich gekannt, mit Egon Erwin Kisch war sie über lange Zeit hinweg eng befreundet. Jahrelang hat Reinerova bei namhaften Wissenschaftlern aus Deutschland und Tschechien um fachliche Unterstützung für ihr Projekt geworben, um Geld und Räume gekämpft. Jetzt ist sie zufrieden. »Unser Treffpunkt für Freunde der zeitgenössischen Prager Literatur nimmt konkrete Formen an«, sagt Reinerova – und lässt gleichzeitig durchblicken, dass die zimmergroße Bibliothek nur ein Anfang sein soll. Ein Präsentationszentrum soll entstehen, dazu ein eigenes Literaturcafé. »Dann könnten wir für Besucher auch regelmäßige Öffnungszeiten anbieten«, hofft auch Lucie Cernohousova, die als Projektmanagerin die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin des Literaturhauses ist. Für die geplante Erweiterung sucht sie derzeit nach geeigneten Räumen, um der Enge im bisherigen Büro zu entkommen. Sobald mehr Platz ist, soll auch die Sammlung größer werden. Verlegerische Ambitionen gibt es ebenfalls. »Am liebsten würden wir die wertvollsten und schönsten Bücher schon bald in einer Neuauflage herausgeben«, träumt Cernohousova.

Mainz

Weißer Ring: Jüdisches Leben auf dem Rückzug

Barbara Richstein, die neue Bundesvorsitzende der Organisation, fordert ein klares Eintreten gegen Judenhass

 15.01.2025

Berlin

Weltweiter Antisemitismus alarmiert Bundesbeauftragten Klein

Negative Stereotype über Juden sind einer Befragung zufolge weltweit so verbreitet wie nie

 15.01.2025

Bundestagswahl

Russlands Außenminister Lawrow lobt AfD und BSW

Es gebe in ihren Äußerungen »viel Vernünftiges«

 14.01.2025

Helsinki

Scholz: Leben der Geiseln muss oberste Priorität haben

Über die Verhandlungen um eine Waffenruhe im Gazastreifen heißt es, ein Abkommen sei greifbar. Der Bundeskanzler hofft auf einen Abschluss

 14.01.2025

Karlsruhe

Verdacht der Volksverhetzung: Polizei ermittelt gegen AfD

Es geht um ein in sozialen Netzwerken gepostetes »Abschiebeticket«. Die zumindest in Teilen rechtsextremistische Partei überschreitet immer wieder Grenzen

 14.01.2025

Vatikan

Papst verurteilt Massaker der Hamas und kritisiert Israel

Regelmäßig steht der Papst in der Kritik, er habe den Terrorangriff der Hamas auf Israel nicht klar genug verurteilt. In seinem neuen Buch tut er genau das, wirft aber auch Israel vor, Terror zu produzieren

von Severina Bartonitschek  14.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Marburg

»Biodeutsch« ist »Unwort des Jahres« 2024

Diskriminierend und »eine Form von Alltagsrassismus«: So stuft die Jury den Begriff ein, wenn er wörtlich verwendet wird. Zum »persönlichen Unwort« der Mitglieder Cheema und Mendel wurde »importierter Antisemitismus«

 13.01.2025

Riesa

Massive Proteste gegen AfD-Bundesparteitag 

Mehrere tausend Menschen sind seit dem frühen Samstagmorgen in der sächsischen Stadt gegen den AfD-Bundesparteitag auf die Straße gegangen

 11.01.2025