algerische Juden

Die Reise nach Khenchela

von Judith N. Klein

Dem mehrfachen Exil der algerischen Juden hat der französische Historiker Benjamin Stora ein Werk gewidmet, das mit der klassischen historiografischen Darstellung bricht und der Subjektivität Einlass gewährt. In der Einleitung berichtet Stora, das Buchprojekt habe ihn auf einer Reise nach Khenchela, dem Herkunftsort der Familie seines Vaters, wie eine »späte Evidenz« ergriffen. »Spät« deshalb, weil der aus einer jüdisch-algerischen Familie stammende Historiker jahrzehntelang über die Geschichte Algeriens forschte und publizierte, ohne dem jüdischen Teil dieser Geschichte je eine Monografie gewidmet zu haben. Splitter subjektiver Erzählungen durchziehen das Buch; dabei kommt der Stimme der Mutter besonderes Gewicht zu. Solch eine subjektiv getönte, vielstimmig orchestrierte Erzählweise ist in der französischen Geschichtsschreibung immer noch selten.
In einer Diskussionsveranstaltung zum Erscheinen des Buches im Pariser Musée d’art et d’histoire du judaïsme sagte der Autor, es mangele den exilierten franko-algerischen Juden und ihren Nachkommen aufgrund bestimmter historischer und psycho- sozialer Bedingungen an Möglichkeiten, sich der eigenen Geschichte zu vergewissern und sie öffentlich zur Sprache zu bringen. Die Reaktion der Teilnehmer gab Stora Recht: Das Interesse war immens, der Wunsch zu diskutieren deutlich spürbar. Es war, als ob das Buch eine Bresche in die kollektive Amnesie geschlagen hätte.
Doch auch den Algeriern mangelt es, so Stora, sowohl an der Bereitschaft, sich an die Juden zu erinnern, als auch an deren konkreter, lebendiger Anwesenheit. Der jüdische Friedhof von Tlemcen existiere noch, jeder kenne ihn, doch niemand spreche über ihn und über das einstige Zusammenleben mit den Juden.
Storas Buch ist ein Aufruf an die algerischen Historiker, sich der jüdisch-algerischen Vergangenheit zuzuwenden. Werden sie, falls sie dem Ruf folgen, wie Stora zu der Feststellung gelangen, dass ein Teil der aktuellen Probleme Algeriens auf den Exodus der Juden zurückgeht? »Die Abwesenheit nicht-moslemischer Minderheiten hat das Risiko der Isolierung und kulturellen Abschließung erhöht«, heißt es im Buch.
Dabei waren die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert insofern geistig »abwesend«, als sie von der fernen Metropole Frankreich träumten. Insbesondere für die städtisch geprägte jüdische Mittel- und Oberschicht verkörperte die französische Kultur ein erstrebenswertes Ziel, das Freiheit und Gleichheit versprach. Man entfremdete sich von den eigenen Sprachen, Traditionen, Gebräuchen und von der arabisch-berberisch-moslemischen Welt in einem Prozess, den Stora das »erste Exil« nennt. Der Décret Crémieux brachte den algerischen Juden die formalrechtliche Gleichstellung mit den Franzosen, ohne dass sie jedoch rückhaltlos in die koloniale Gesellschaft aufgenommen wurden. Im Gegenteil: Die aus Europa stammenden »Siedler« hörten nicht auf, die Rücknahme des Décret Crémieux zu fordern und die Juden als doppelt Fremde – als Juden und als Araber – zu brandmarken.
Dennoch tat die kulturelle Entfremdung zwischen Moslems und Juden einer gewissen jüdisch-moslemischen Empathie keinen Abbruch. Ende des 19. Jahrhunderts nahm der Antisemitismus in Algerien ungekannte Ausmaße an, antijüdische Gewalttaten waren an der Tagesordnung; die arabisch-berberische Bevölkerung nahm daran nicht teil. Auch unter dem Vichy-Regime ließ sie sich nicht gegen die Juden aufhetzen. Die Juden ihrerseits unterstützten in der Zwischenkriegszeit die moslemischen Forderungen nach Gleichstellung.
Das »zweite Exil« betrifft die Vichy-Zeit, in der die antisemitischen Judenstatute von 1940 und ’41 auf Algerien übertragen, die Juden durch Aufhebung des Décret Crémieux der französischen Staatsbürgerschaft beraubt und die jüdischen Schüler und Studenten aus den Schulen und von den Universitäten vertrieben wurden. Diese Erfahrungen bestärkten paradoxerweise, wie Stora schreibt, die algerischen Juden in ihrer Wertschätzung der französischen Staatsbürgerschaft und ihrer Anhänglichkeit an Frankreich; jedenfalls konnte sich die Mehrheit von ihnen nicht vorstellen, in einem unabhängigen algerischen Staat zu leben. Während des algerischen Unabhängigkeitskampfes seit 1954 zogen sie es vor, zu schweigen und ihre Hoffnungen auf eine Algérie française zu setzen. Nur ganz wenige von ihnen nahmen für die algerische Unabhängigkeitsbewegung Partei.
Nach dem Algerienkrieg setzte sich der Exodus, der bereits 1945 begonnen hatte, in einem solchen Ausmaß fort, dass die jüdische Präsenz in Algerien ausgelöscht wurde. Stora fasst das »dreifache Exil« so zusammen: »Die algerischen Juden erschei- nen nacheinander als entwurzelt aus ihrer Sprache und Herkunftskultur, als Fremde unter Vichy und als Flüchtlinge nach der Unabhängigkeit Algeriens im Juli 1962.«
Solche Erfahrungen leisteten dem Verdrängen und Schweigen Vorschub. Nach der Ankunft in Frankreich vermieden es die algerischen Juden aufzufallen, wie Stora schreibt: »Sie wollten nicht als Exilierte erscheinen. Sie wollten sich integrieren, um das Trauma und das Sich-Losreißen zu vergessen. Mit dem dritten Exil ist die Entfernung sowohl zur jüdischen Vergangenheit und ihren Marksteinen als auch zur arabisch-berberischen Welt gewachsen. Eine doppelte Auslöschung der algerischen Geschichte fand statt.«
Diesen Folgen des »dreifachen Exils« hat Stora sein Buch entgegengestellt, als Appell, sich zu erinnern und an eine lange Geschichte anzuknüpfen. Die Splitter der Subjektivität, die das Werk eingefangen hat, bezeichnen den bisherigen Mangel (an Forschung, an kollektiver Erinnerung, an öffentlicher Rede) und weisen bereits über ihn hinaus. Es ist zu hoffen, dass auch die reiche algerisch-jüdische Literatur der Zwischenkriegszeit wiederentdeckt wird.

benjamin stora: les trois exils. juifs d’algérie. Éd. Stock, Paris 2006.

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