von Michael Borgstede
Als der Krieg beendet war, brachen in Israel die Kämpfe erst richtig los. Irgend etwas war schiefgelaufen – daran zweifelte bald niemand mehr. War die israelische Reaktion auf den Überfall der Hisbollah und die Entführung der Soldaten an der nördlichen Grenze etwa überzogen ausgefallen? War die Armee gar unzureichend ausgerüstet, hatten die Kriegsherren sich zu sehr auf die Allmacht der Luftwaffe verlassen und zu spät Bodentruppen in den Libanon geschickt? Im Volk herrschte Einigkeit: So hatte man sich den Sieg gegen Hassan Nasrallahs Terror-Truppe nicht vorgestellt. Folglich sahen sich Ministerpräsident Ehud Olmert, Verteidigungsminister Amir Peretz und Armeechef Dan Halutz bald mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Das gesamte politische Establishment sei korrupt und unfähig – das war nicht selten zu hören.
Nur ein Name, der fiel in diesem Zusammenhang sehr selten: Außenministerin Zipi Livni schien dem Zorn auf geheimnisvolle Weise zu entgehen. Während die Kriegsherren in den Wochen nach Einstellung der Kampfhandlungen wie vom Erdboden verschluckt waren und sich vor ihren Kritikern fast zu verstecken schienen, suchte die Außenministerin geradezu das Rampenlicht und genoß die Aufmerksamkeit. Sie gab Interviews, sprach schon frühmorgens im Radio und stand abends im Fernsehstudio nochmals Rede und Antwort. Immer wenn ihr eine Frage dabei so dumm erschien, daß sie besser unbeantwortet geblieben wäre, dann seufzte die Ministerin etwas verlegen, lächelte und erklärte nochmals geduldig die Verwicklungen der nahöstlichen Politik.
Zipi Livni denkt eben schneller als die meisten Menschen. Das hat sie mit Ministerpräsident Olmert gemeinsam. Im Gegensatz zu Olmert ist Livni aber nicht nur scharfsinnig, sondern auch geduldig – eine Eigenschaft, die man in ihrem Fall nicht mit Gutmütigkeit verwechseln sollte. Daß sie taktisch mit allen Wassern gewaschen ist, hat sie gerade erst wieder im Libanonkrieg unter Beweis gestellt. Wochenlang hatte sie im Ausland die israelische Linie dargestellt und dabei die heimischen Kameras gemieden. Sie hat sich auf keine unrealistischen Kriegsziele festgelegt, hat nicht vollmundig die »Zerstörung der Hisbollah« versprochen. Mit geradezu unheimlicher Virtuosität ist es ihr gelungen, die Verantwortung für den unglücklichen Libanonkrieg von sich fernzuhalten ohne dabei in den Ruf der Defätistin zu kommen.
Livni war anfangs von der Idee einer multinationalen Truppe im Südlibanon genausowenig begeistert wie Premier Olmert. Doch sie erkannte früh, daß Israel sich den Rufen nach einem Waffenstillstand auf Dauer nicht entziehen kann. Bereits eine Woche nach Beginn der Kampfhandlungen verkündete Livni im krassen Gegensatz zu den bellizistischen Beschwörungen ihrer Kabinettskollegen: »Jetzt beginnt die Zeit der parallelen Diplomatie.« So stimmte sie im Kabinett sogar gegen die Bombardierung eines von der schiitischen »Partei Gottes« kontrollierten südlichen Vororts von Beirut. Sie wollte eine weitere Eskalation vermeiden.
Livni ist keine romantische Ideologin, sie betreibt Realpolitik. Der nüchterne Blick war ihr dabei nicht in die Wiege gelegt, im Gegenteil: Ihre Eltern waren im Irgun aktiv, einer jüdischen Widerstandsgruppe gegen die britische Mandatsmacht, die auch vor Terroranschlägen nicht zurückschreckte. Wie Olmert wuchs Livni im revisionistischen Umfeld der Betar-Jugend auf, an die samstäglichen Familienbesuche bei Menachem Begin kann sie sich noch gut erinnern. Auf dem Grabstein ihres 1991 verstorbenen Vaters prangt eine Landkarte seines Wunsch-Israels, das auch das Gebiet östlich des Jordans mit einschließt. In Interviews übt sich die redegewandte Außenministerin heute in einem seltsamen ideologischen Spagat. Einerseits bleibt sie dem Andenken ihres Vaters und ihrer Mutter treu und sagt: »Ich glaube – wie meine Eltern – an das Recht des jüdischen Volkes auf das ganze Land Israel.« Andererseits habe sie aber in ihrem Elternhaus eine Erziehung genossen, in der demokratische Werte über alles gestellt worden seien. Deshalb sei ihr der demokratische und jüdische Charakter des Staates wichtiger als der prinzipielle Anspruch auf das noch besetzte Westjordanland.
Nach dem obligatorischen Militärdienst verließ Livni als junge Frau die Armee im Rang eines Oberstleutnants und ging für vier Jahre zum Auslandsgeheimdienst Mossad. Daß sie über diese Zeit heute nicht sprechen will, nährt Gerüchte über abenteuerliche Einsätze als Spionin. Die Wahrheit ist wohl weniger spektakulär: Mit ihren herausragenden analytischen Fähigkeiten war Livni prädestiniert für die Auswertung von Informationen – also Büroarbeit. Einem Jurastudium folgten zehn Jahre als Rechtsanwältin für Arbeits- und Wirtschaftsrecht. 1996 kandidierte sie erstmals für die Knesset, konnte aber in der Likud-Vorwahl keinen aussichtsreichen Listenplatz erringen. Als Generaldirektorin der Behörde für staatliche Betriebe begann sie damit, den Regulierungsdrang aus der sozialistischen Anfangszeit Israels vorsichtig einzuschränken. 1999 gelang ihr dann der Sprung in die Knesset. Nach zwei Jahren auf den Oppositionsbänken machte der neue Ministerpräsident Ariel Scharon die Jungpolitikern zur Ministerin für Regionales. Später amtierte sie als Ministerin ohne Geschäftsbereich, Landwirtschaftsministerin, Ministerin für Immigration und Integration, Wohnungsbau- ministerin und Justizministerin – auch auf wenig angesehenen Posten zeigte Livni vollen Einsatz. Praktisch konnte sie allerdings meist wenig ausrichten, weil das instabile politische System ihr innerhalb weniger Monate den nächsten Posten bescherte. Sie gehörte zu den verläßlichsten Verbündeten Ariel Scharons bei der Verwirklichung des Rückzuges aus dem Gasa-
Streifen und folgte ihrem politischen Ziehvater im Herbst 2005 in die neugegründete Kadima-Partei.
Als intelligent, charmant und ehrlich bis ins Detail gilt die Außenministerin. Besonders letzteres ist im korruptionsgeschüttelten Israel keine Selbstverständlichkeit. Hinter ihrem Rücken machen sich die Kollegen schon mal über ihre Korrektheit lustig. Zipi lasse sich nicht einmal auf einen Teller Humus einladen, sagt ein befreundeter Abgeordneter. »Sie hat Angst, der Bestechlichkeit beschuldigt zu werden.«
Mit ihrem Hang zur undiplomatischen Eindeutigkeit hat sich die oberste Diplomatin aber auch schon in Schwierigkeiten gebracht. Als sie einmal als Justizministerin im vergangenen Jahr den Sperrwall zum Westjordanland besichtigte, gab sie der begleitenden Presse zu Protokoll, es bedürfe nun wirklich nicht besonderer Phantasie, sich angesichts dieses Bauwerkes den zukünftigen Grenzverlauf auszumalen. Da hatte sie einmal mehr nur ausgesprochen, was eh alle dachten. Die Rechts- anwälte ihres Ministeriums aber waren we- nig begeistert, versuchten sie doch seit Monaten, Israels oberste Richter davon zu überzeugen, daß der Sperrwall gar nicht die Grenzziehung vorwegnehme, sondern nur eine Sicherheitsfunktion erfülle.
Noch mehr Aufsehen erregte eine Äußerung im amerikanischen Fernsehsender ABC in diesem Frühjahr. Spontan hatte Zipi Livni dort kurz nach ihrer Ernennung zur Außenministerin den folgen- schweren Satz gesagt: »Jemand, der israelische Soldaten angreift, ist ein Feind und wird von uns bekämpft werden, aber ich glaube nicht, daß Übergriffe auf Soldaten unter die Definition von Terrorismus fallen.« Sollte sie nicht um die Sprengkraft ihrer Aussage gewußt haben? Hatte sie sich vielleicht einfach nur verplappert? Oder hatte Livnis vorsichtige Terrordefinition ihre Wurzeln vielleicht auch in der Vergangenheit ihrer Eltern? Schließlich war ihr Vater als Chef der »operativen Einheit« des Irgun direkt mit der Planung und Ausführung von Anschlägen beschäftigt. Erstaunlich ist, daß diese scheinbare politische Tolpatschigkeit der Außenministerin im Endeffekt nicht geschadet hat.
Intelligent, charmant, gebildet, weltläufig – diese Qualitäten konnte Livni bereits zu Beginn ihrer Amtszeit als Israels erste Diplomatin eindrucksvoll unter Beweis stellen. In kürzester Zeit gelang es ihr, eine erstaunlich stabile internationale Front gegen die Hamas-Regierung in Ramallah zu bilden. Sie verprellt ihre westlichen Gesprächspartner nicht mit überzogenen Forderungen, kann gut zuhören, auf Englisch und Französisch antworten und geht keinem Konflikt aus dem Weg.
Längst gehört Zipi Livni zu den beliebtesten Politikern des Landes. Viele sahen in ihr nach dem Schlaganfall Scharons gar eine potentielle Ministerpräsidentin. Doch als damals Gerüchte über einen Machtkampf zwischen ihr und Olmert durch die Presse geisterten, zögerte sie nicht und sicherte Olmert öffentlich ihre Unterstützung zu. Wenig später räumte sie freiwillig den zweiten Platz auf der Kandidatenliste der Kadima-Partei für Schimon Peres.
Die Spekulationen über ihre Zukunft aber gehen weiter. Schließlich ist sie erst die zweite weibliche Außenministerin seit der Staatsgründung. Von 1956-1965 hatte Golda Meir das Amt inne. Plant Livni eine ähnliche Karriere? Wird sie die zweite israelische Ministerpräsidentin? »Ach, das weiß ich nicht«, antwortet Zipi Livni. Und seufzt ein wenig verlegen.