von Carl D. Goerdeler
Man mag es Massel, Fügung oder Logik nennen: dass Clara Levin Ant im Zentrum der Macht sitzt, im zweiten Stock des Palácio Planalto, den der Architekt Oscar Niemeyer mitten in die zentrale Hochebene, in diese »Metropole des dritten Jahrtausends«, Brasília, gesetzt hat. Der Weg von Clara Ant war beinahe genauso steil und holperig wie der ihres Chefs, Luiz Inácio Lula da Silva, der erste Arbeiter-Präsident, den die Brasilianer auch noch im sechsten Jahr seiner Regierung hochschätzen.
»Lula« wurde als kleiner Junge mit seiner Mutter vom Land in die Stadt geschwemmt; er schlug sich durch, zäh und unbeugsam, vom Schuhputzer zum Schlosser, über den dritten Bildungsweg, über die Arbeiterbewegung, über Streiks und gegen die Militärs, gegen den Hohn der Begüterten über diesen Halbalphabeten, diesen Revoluzzer – bis er 2002 mit der größten historischen Mehrheit in den Palácio Planalto einzog, in dem bis dahin nur Advokaten, Generäle und Professoren regiert hatten.
Clara Ant war von Anfang an dabei. Sie kam nicht wie Lula im staubigen Nordosten Brasiliens zur Welt, sondern hoch in den Anden, in La Paz, der Hauptstadt Boliviens. Doch sie kommt wie ihr Chef aus dem Elend. Ihre Eltern, treue Aschkenasim, mussten vor den deutschen Truppen aus ihrem Schtetl in Ostpolen flüchten – nach Osten ins stalinistische Russland. Wie sie da überlebt haben, darüber haben sie wenig gesprochen. Als sich die Gelegenheit bot, nach Bolivien auszuwandern, zögerten sie nicht. Bolivien hatte damals, nach dem Krieg, einige tausend Ostjuden aufgenommen. Vater Ant nahm jede Arbeit an, die sich bot – inzwischen hatte er drei Töchter, darunter Clara, sie wurde 1948 geboren. Das krisen- und putschgeschüttelte Bolivien bot jedoch wenig Zukunftsperspektive für die jüngst eingewanderten europäischen Juden. Also zogen die Ants nach São Paulo, Brasilien. Da wuchsen die Wolkenkratzer in den rußgeschwärzten Himmel, da gärte es vor Energie und neuem Zeitgeist unter roten Fahnen. Bis die Militärs 1964 diesen Traum zertraten.
Clara Ant, die junge Architektur-Studentin, ging auf die Barrikaden, zur Guerilla stieß sie nicht. »Es ist verboten zu verbieten«, skandierten die Kommillitonen. Doch davon ließen sich die Generäle wenig beeindrucken. Kritisch wurde es erst, als später, in den 70er-Jahren, die Arbeiter vor die Fabriktore zogen und ihren Teil vom brasilianischen Wirtschaftswunder forderten. Clara Ant hatte damals bereits an der Fakultät für Architektur und Städteplanung ihren Abschluss gemacht und war für ein Jahr nach Israel gegangen, ans Technion nach Haifa. Zurück in Brasilien bekam sie eine Professur an der Katholischen Universität in Campinas – private Hochschulen waren großzügiger mit Dissidenten.
Denn eine Dissidentin war Clara Ant natürlich geblieben; sie machte keinen Hehl aus ihrer Überzeugung. Sie agitierte auf dem Campus wie im Fachverband der Architekten und Stadtplaner – so überzeugend, dass man sie zur Vizepräsidentin des Verbands wählte. Und natürlich war sie dabei, als sich 1983 der erste freie gewerkschaftliche Dachverband CUT konstituierte und wenig später die Arbeiterpartei PT, deren Feuerkopf dieser Metaller Lula war, den selbst die Beugehaft nicht brechen konnte. Aus der Gegnerschaft zum Militärregime und dem von Knobelbechern geschützten Kapitalismus wuchs jene breite Bewegung unter dem roten Stern der PT, die nach unendlich vielen Streiks und Schlachten schließlich in eine demokratische Reformbewegung mündete, die wie ein Tsunami über die halbfeudalen Verhältnisse in Brasilien fegte.
So die Darstellung im Zeitraffer. In Wahrheit machten Lula wie Clara Ant eine gesellschaftspolitische Ochsentour durch, die bürgerliche Politiker kaum jemals geschafft hätten. Lula und Clara hatten nichts zu verlieren. Längst hatten sich die Genossen kennen- und schätzen gelernt. Clara zog 1986 als Abgeordnete in den Landtag von São Paulo ein und diente Martha Suplicy, der roten Bürgermeisterin, kurze Zeit als Verwaltungschefin. Aber vor allen Dingen mischte sie im Wahlkampf mit. Lula, der dreimal vergebens zum Anlauf ins höchste Staatsamt startete, brauchte jemanden, dem er vertrauen und auf den er bauen konnte. Also musste die »Polin« als Wahlkampforganisatorin ran. Sie war längst mit der Politik verheiratet.
Es hätte ja auch alles danebengehen können. Am 15. Oktober 2002 aber flossen die Tränen der Freude. Lula hatte triumphal gesiegt. Clara Ant vergisst diesen Tag nie. Mit wem sollte Lula nun regieren? Mit Karrierebeamten und -diplomaten? Denen konnte man nicht trauen. Lulas engste Mannschaft bestand aus den Genossen der ersten Stunde. Wie Clara Ant, das linke Urgestein.
Sie erinnert ein wenig an die junge Golda Meir, sie ist frei von diesem Glamour und Glitzer, den sonst die brasilianischen Ladies um sich sprühen. Barocke Worthülsen kommen nicht aus ihrem ungeschminkten Mund. Ihr würde man sofort das eigene Bankkonto anvertrauen.
Die heute 60-Jährige bekennt sich zu ihrem Judentum; ihre Schwestern leben mit ihren Familien in Israel. Hin und wieder wird sie von jüdischen Gemeinden eingeladen, sie hält Kontakt zu den Spitzen der jüdischen Verbände. Ant ist glücklich, einem Land zu dienen, in dem die unterschiedlichen Religionen und Ethnien friedlich zusammenleben. Sie ist stolz darauf, dass Lula bekannt hat, er würde den Antisemitismus auch bekämpfen, wenn es keine Juden in Brasilien gäbe. Er hat den Hass gegen Juden immer verurteilt und nimmt seit drei Jahren regelmäßig an den Gedenkfeiern zur Befreiung von Auschwitz teil.
Ants eigentlicher Job in der Presidencia besteht darin, die Entscheidungen des Präsidenten festzuhalten und nachzuprüfen, ob sie in den Ministerien ankommen. Außerdem muss sie Lula auf seinen Inlandsreisen munitionieren; dazu gehören Reports, Statistiken, Personalprofile, Memos über frühere Kontakte, Hintergrundinformationen sammeln. Der Präsident kann ja schlecht googeln. Clara Ant, die jüdische »Polin«, ist seine rechte Hand, ein Archiv auf zwei Beinen. Und, wenn nötig, redet sie auch Tacheles mit dem Chef.