von Rabbiner Jonathan Magonet
Sarah stirbt. Sie hat ein reifes Alter erreicht, auch wenn die biblischen Altersangaben eher symbolisch zu verstehen sind. Von den Babyloniern hat die Bibel die arithmetische Grundeinheit 60 übernommen. Mit 127 Jahren hat Sarah also zwei volle Einheiten und noch weitere sieben Jahre hinter sich, wobei die Zahl sieben ihrerseits eine »Idealzahl« ist. Ihr Leben ist mehr als harmonisch abgerundet.
Sarahs Ehe mit Abraham kann keine leichte Ehe gewesen sein. Dieser rastlose Mann, von Gott getrieben, der ihn ruft und fordert, führte ein nomadisches Leben. Seine Reisen brachten Sarah nicht selten in Gefahr: So am Hof des ägyptischen Pharao und bei Abimelech in Gerar. Auch wenn Abraham in diesen Fällen ihre Schönheit nicht unbewußt ausnutzte, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten oder seine eigenen Ziele zu fördern – materiellen Gewinn zog er allemal daraus. Hat sich Sarah je beschwert? Wirkte sie willig mit Abraham zusammen? Darüber erfahren wir in der Tora nichts. Wir müssen diese Lücken mit unserer eigenen Einbildungskraft zu füllen versuchen.
Was die Last angeht, die Sarah in ihrer Ehe zu tragen hatte, ihre Unfruchtbarkeit, verschweigt die Tora indes nichts. Ohne einen Sohn und Erben würden sich alle Träume Abrahams, all seine Erfahrungen und Gedanken über Gott, die er der Welt vermitteln wollte, am Ende in nichts auflösen. Welch schreckliche Belastung muß das für die Ehe gewesen sein. Die Lösung mit Hagar, die als Ersatzmutter diente, hat Sarah gewiß nur in letzter Not vorgeschlagen. Abraham aber stimmte zu, und wenn er später von seiner Liebe zu dem Kind Ismael sprach, mußte das in Sarahs Ohren wie eine bittere Bestätigung ihres eigenen Scheiterns klingen. So ist also die wunderbare Geburt Isaaks vielleicht zu spät gekommen, um den Riß zwischen Sarah und Abraham noch einmal zu heilen.
Und nun nimmt Sarah Rache sowohl an Abraham wie an Hagar. »Diese Magd und ihr Sohn …” (1. Buch Moses, 21, 10), deren Namen sie nicht einmal aussprechen mochte, sie mußten verschwinden. Abraham schickte sie fort und schuf damit eine Distanz zwischen seinen beiden geliebten Söhnen Isaak und Ismael, deren Folgen wir heute, Jahrtausende später, zu spüren bekommen.
Wie sah wohl das gemeinsame Leben der Eheleute in den späten Jahren aus? Abraham besaß weitere Frauen, Konkubinen und weitere Kinder. Von Sarah hören wir erst wieder, als unvermittelt ihr Tod vermeldet wird. Was hat Abraham wohl empfunden, während er die Trauerriten vollzog? Die Tora stellt nur die schlichte Tat- sache fest, um dann ausgiebig die Verhandlungen um den Erwerb einer Grabstätte zu schildern. Selbst hier mußte Sarah zurücktreten hinter die Vision von einer Ruhestätte für die Familie in Hebron, im Herzen des Landes, das Gott Abrahams Nachfahren versprochen hatte.
Tröstete sich Abraham mit den Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben? Oder war er schon so von seiner visionären, ganz auf Gott ausgerichteten Welt umfangen, daß ihm einfache Gefühle wie diese gar nicht mehr zugänglich waren? Gewiß ersehen wir im Paraschah dieser Woche (1. Buch Moses, 23) über die Verhandlungen, die er führte, daß er sein Verhandlungsgeschick und seine Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen keineswegs eingebüßt hat.
Als Einwanderer mußte nicht nur der Verkäufer Efron seine Zustimmung erteilen – erforderlich war darüber hinaus das Einverständnis der führenden Einwohner des Gebietes, die den Geschäftsabschluß denn auch überwachen. Abraham wollte bloß die Höhle von Machpela erwerben, aber der Handel mußte über ein ganzes Feld und alle umstehenden Bäume abgeschlossen werden, die Abraham überhaupt nicht brauchte, und er kaufte das alles zu einem außerordentlich hohen Preis. »Vierhundert Schekel Silbers, was wäre das zwischen dir und mir?« schlägt Efron zu Verhandlungsbeginn vor. Und, zum allseitigen Erstaunen vielleicht, stimmt Abraham ohne Zögern zu. In jüngeren Jahren hätte er wohl gehandelt, aber nun muß ihm klar gewesen sein, daß seine Zeit zu Ende ging. Abraham kam so einen Schritt voran in seinem Bestreben, den Nachfahren diesen Landbesitz zu sichern. Dann wendet er sich dem nächsten Problem zu: Eine Frau für Isaak zu finden.
Erst am Ende des nächstfolgenden Kapitels erhalten wir den ersten Hinweis auf die Gefühle, die Sarahs Tod in der Familie auslöste. Es sind dies nicht Abrahams, sondern Isaaks Gefühle. Wir hören davon am Ende dieses außergewöhnlichen Kapitels (1. Buch Moses, 24) über die Reise von Abrahams Knecht auf der Suche nach einer passenden Frau für Isaak. Dieses Kapitel ist das bei weitem längste im Buch Genesis, und der größte Teil davon dreht sich um Verhandlungen. Erst im allerletzten Satz erhaschen wir einen Blick in das Innenleben dieser überlebensgroßen Gestalten.
Rebekka, die künftige Braut, begleitet den Knecht auf der langen Rückreise nach Kanaan. Isaak geht hinaus aufs Feld, um nachzusinnen. Rebekka und er sehen sich zum ersten Mal aus der Ferne. In einem merkwürdigen Augenblick – komisch und romantisch zugleich – läßt sich Rebekka vom Kamel herab, oder aber: Sie fällt hinunter in dem Moment, da sie Isaak erblickt. Wie wir diese Stelle lesen, hängt von der Übersetzung des Verbs »Nafal« ab. Rebekka verschleiert sich, und diese Geste mag bereits auf die verborgenen Gedanken und Handlungen vorausweisen, die ihre Ehe später charakterisieren sollten. Rebekkas besondere Liebe zu Jakob wird zu einem weiteren Bruderzwist führen, der auch noch das Leben der nächsten Generation belasten wird. Aber diese Geschichte liegt noch vor uns.
Nun begegnen wir Sarah ein letztes Mal. Wenn wir auch nie etwas über Abrahams Gefühle erfahren, wird doch Isaaks Empfinden an dieser Stelle mit aller Deutlichkeit enthüllt: »Und Isaak führte Rebekka in das Zelt seiner Mutter Sarah, und er nahm Rebekka, und sie ward ihm zum Weib, und er gewann sie lieb. Nun tröstete sich Isaak nach seiner Mutter.« (1. Buch Moses 24, 67)
Chaje Sara: 1. Buch Moses 23,1 bis 25,18