Ruth Klüger

Die Nummer am Arm

von Carsten Hueck

Unter dem Titel weiter leben erschien 1992 im kleinen Göttinger Wallstein-Verlag ein Buch, das zum unerwarteten Bestseller wurde. Ruth Klüger, geboren 1931 in Wien, schilderte ihre Erinnerungen an Theresienstadt, Auschwitz, Christianstadt, Groß-Rosen. »Das Buch nannte ich ›weiter leben‹, was nichts anderes zu bedeuten hatte, als dass das Weiterleben von alleine kommt und man nichts dazu tun muß, außer dem Umgebrachtwerden zu entgehen«, heißt es nun im zweiten Teil ihrer Erinnerungen unterwegs verloren.
Zu Beginn schreibt Ruth Klüger über jene Nummer, die »geübte Häftlingshände« der Zwölfjährigen in Auschwitz ins Fleisch des linken Armes brannten. Jahrzehntelang hat sie sie getragen. Als Zeugnis erfahrener Dehumanisierung, später als »Totenehrung und Lebensbejahung in einem«. Erst in den 90er-Jahren ließ sie sich die Tätowierung entfernen: »Ich konnte mir’s leisten, es war gut angelegtes Geld, dachte ich zufrieden.«
Doch innerlich ist die Nummer geblieben, hat Spuren hinterlassen in Empfindungen und Weltsicht. »Umziehen war mir immer gleichbedeutend mit einer neuen Lebensphase und ein Beweis dafür, daß ich nicht gefangen war.« Da wird sie sichtbar, die Tätowierung.
In Bayern macht Ruth Klüger nach der Befreiung Abitur, immatrikuliert sich in Regensburg. 1947 emigriert sie in die USA. Macht in New York ihren Collegeabschluss, zieht nach Kalifornien, studiert, lernt ihren Mann kennen, Tom Angress. »Tom war fast zwölf Jahre älter als ich, in Berlin geboren, und hatte als amerikanischer Soldat seinen Teil zur deutschen Niederlage beigetragen. Gewiss zählte das zu den Gründen, warum ich ihn kurze Zeit später geheiratet habe«, heißt es im Kapitel »Neue Welt«. Eheschließung als Reflex auf die Weltgeschichte. Angress, der sein aus der Soldatenzeit Gespartes hütete wie »die Zwerge den Nibelungenschatz«, fand es nicht notwendig, dass seine Frau während der Schwangerschaft einen Frauenarzt konsultierte. »Und ich dachte, ich bin ja gesund, habe drei KZ überstanden, wozu brauche ich einen Frauenarzt.« Wieder wird sie sichtbar, die Tätowierung.
Ruth Klüger arbeitet als Bibliothekarin, lässt sich von Tom Angress scheiden, zieht die beiden gemeinsamen Söhne groß. Als der ältere dreizehn ist, entscheidet er sich für ein Leben beim Vater, den anderen Jungen lässt die Mutter bei Freunden, als sie ihrer akademischen Karriere wegen in einen anderen Bundesstaat zieht. Sie unterrichtet in Cleveland, in Cincinnati, in Kalifornien und an der Princeton University. Später auch in Göttingen und Wien. Sie beschreibt ausführlich, mitunter die Grenze zum akademischen Klatsch überschreitend, wie widrig die Umstände, wie ekelhaft die Kollegen in den 50er- und 60er-Jahren waren, wie sie als Frau und Jüdin diskriminiert wurde. So forderte man sie beispielsweise auf, im Sommer lange Blusen zu tragen, damit ihre Tätowierung nicht zu sehen sei. Diese Passagen lesen sich wie Abrechnungen. Und sie sind als solche auch gedacht. Ruth Klüger zeigt mit dem Finger auf andere. Aber sie zeigt auch sich. Unnachgiebig in ihrer Empfindsamkeit, ihrer Empörung, ihrem Gerechtigkeitssinn. Das ist die Tätowierung.
Es steht dem Leser nicht an, die Ungeheuerlichkeit vieler geschilderter Vorgänge in Zweifel zu ziehen. Aber nach über zweihundert Seiten Lektüre überwiegt der Eindruck, dass diese Erinnerungen vor al-lem den unangenehmen Begegnungen gelten, den beschämenden Situationen, den respekt- und taktlosen Männern. Es geht überwiegend um Antisemiten, Frauendiskriminierung und männliche Borniertheit. Dass es auch menschlich erquickende Begegnungen und tragfähige, von Verständnis und Zuneigung gesättigte Frauenfreundschaften gibt – das wird zwar er- wähnt. Doch mit großer Diskretion und nicht so ausführlich wie all die Unannehmlichkeiten. Auch dass Ruth Klüger die akademische Lehre als »wunderbaren Beruf mit unvergleichlichen Höhepunkten« erlebt, führt sie nicht weiter aus.
Ruth Klügers Erinnerungen verdeutlichen das Dilemma einer Existenz nach Auschwitz. Da macht eine Frau, allen Widrigkeiten zum Trotz, akademische und schriftstellerische Karriere. Hat Kinder, Enkelkinder, Freunde. Wird geehrt und verehrt. Doch die Tätowierung bleibt. Wer einmal die Nummer auf dem Arm getragen hat, kommt nicht davon los. Selbst wenn man sie weglasert, bleibt sie spürbar: »Was unterwegs verloren geht, bist immer du selbst, und der nächste Ankunftsort besteht, wie die vorigen, aus dem Jetzt und dem Damals, es gibt keinen neuen Anfang, nur Fortsetzungen auf einem Weg, der zusehends schmaler wird.«

ruth klüger: unterwegs verloren
Zsolnay, Wien 2008, 235 S., 19,90 €

Kultur

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