von Benno Reicher
»Er hat vollkommen recht!« Udo Melzers Zustimmung ist eindeutig. Die Gäste an diesem Tisch wissen das. Und zur Bekräftigung zeigt seine erhobene rechte Hand direkt auf den Kopftisch in der Saalmitte. Dort sitzen der Rabbiner, der Kantor, die Gemeindevorstände und ihre Familien. Zwi Rappoport, Vorstandsmitglied der Dortmunder Gemeinde, hält gerade seine Kiddusch-Rede nach dem Schabbat-Gottesdienst. Er greift aktuelle Themen auf. Vor Wochen empörte er sich über den Mangel an Sensibilität deutscher Bischöfe auf einer Israel-Reise. Ein Gemeindemitglied übersetzt die letzten Sätze ins Russische. Und Udo Melzer dreht sich wieder zu seinen Freunden und sagt auf Deutsch: »Das muss man genau so sagen.« Später wird er mehrfach betonen, dass er eine eigene, eine unabhängige Meinung hat, dass er nicht immer mit allem einverstanden ist. »Aber wenn er recht hat, hat er recht.«
Hier am Tisch der Alteingesessenen im Dortmunder Gemeindesaal sitzen keine jungen Menschen. Die gut zehn Mitglieder sind ein lebendes Stück Nachkriegsgeschichte der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund. Es gibt Hering, Challe, Kaffee, natürlich auch einen Schluck Kiddusch-Wein. Die Reden werden aufmerksam verfolgt, zumindest die deutsche Fassung. Bei der russischen Übersetzung, die versteht hier niemand am Tisch, beschäftigen sich die kurzen Gespräche der alten Herren mit schwarzer Kippa auf dem Kopf mit einem bevorstehenden Boxkampf, mit den finanziellen Nöten weltbekannter Sportler, auch mit einem unbekannten Besucher: »Wer bist du?«
Zwi Rappoport kommt zum Schluss seiner Rede. »Wir müssen zusammenhalten«, beschwört er die Gemeinde. Hier am Tisch klatschen die Menschen jetzt Beifall, auch Udo Melzer ist einverstanden. Und nach der Übersetzung des letzten Satzes klatschen auch die anderen Menschen im vollbesetzten Gemeindesaal, etwa 150 russischsprachige Juden, die seit den 90er- Jahren nach Dortmund zugewandert sind. Sie sind die überwältigende Mehrheit in der Gemeinde. Jetzt steht der Rabbiner auf, Avichai Apel, ein junger Israeli und orthodox. »Mit dem haben wir Glück gehabt«, sagt Hanna Sperling, die Vorsitzende dieser westfälischen Gemeinde. Man glaubt es ihr gerne. Vorher hatte die Gemeinde einen liberalen Rabbiner der modernen Art. Rabbi Apel hat Deutsch gelernt, das hört man noch. Aber was hier noch viel wichtiger ist: Er hat auch Russisch gelernt. Seine Schabbat-Rede hält er zuerst auf Deutsch, danach wiederholt er das Ganze noch einmal auf Russisch. Am deutsch-sprechenden Tisch kann man sich nun wieder der allgemeinen Unterhaltung zuwenden. Jeder kennt fast jeden, es gibt viel zu erzählen, und die nicht gerade freundliche Bemerkung »es nervt, dass man alles übersetzen muss«, ist eher beiläufig dahergesagt und wird kaum beachtet.
Hanna Sperling ist in den 50-er-Jahren in Dortmund aufgewachsen. Die Gemeinde ist für sie ein Stück Familie. »Wir hatten es hier immer ganz nett. Damals war Dortmund eine kleine Gemeinde, jeder kannte jeden, man duzte sich, traf sich an den Feiertagen in der Synagoge, feierte die Familienfeste zusammen, denn man war auch privat miteinander befreundet. Wir hatten hier eine sehr familiäre Atmosphäre.« Deshalb versteht die Gemeindevorsitzende auch, worüber die alten Mitglieder reden. Und sie erinnert sich noch gut an die 90er-Jahre, als sich die Gemeinde mit der Zuwanderung nach und nach veränderte. »Es war schon ein Bruch, und die Alteingesessenen sind nicht mehr so gerne gekommen. Dieses familiäre Verhältnis gab es nicht mehr. Es wurde auch mehr und mehr Russisch gesprochen. Viele von den alten Mitgliedern haben das sehr bedauert.«
Durch die Zuwanderung hat die Dortmunder Gemeinde heute fast 4.000 Mitglieder. Maximal fünf Prozent davon zählt der Gemeinde-Geschäftsführer zu den Alteingesessenen. Zu Gottesdiensten und größeren Veranstaltungen kämen rund zehn bis zwanzig von dieser Gruppe. Dazu gehören auch Ronit und Achim Polak. Ronits Eltern kamen aus dem Westfälischen, die Mutter aus Gelsenkirchen, der Vater war ein Viehhändler aus dem Münsterland. Sie war 18, als sie mit ihren Eltern 1957 aus Israel nach Dortmund kam. Vier Jahre später heiratete sie ihren Mann, auch ein Junge aus einer Rückwandererfamilie, die in Holland überleben konnte. »Wir waren die erste Chuppe hier in der Synagoge, das erste jüdische Paar, das sich hier kennengelernt hat nach dem Krieg.« Es muss eine Sensation gewesen sein. Noch heute erinnert sich Ronit, dass praktisch die ganze Gemeinde eingeladen war und dass der damalige Gemeindevorsitzende Siegfried Heimberg unbedingt Trauzeuge sein wollte, so wichtig war das für die Gemeinde.
»Das Gemeindeleben war damals intensiver für uns, interessanter. Wir hatten den Club, wir haben einmal in der Woche Karten gespielt, mal bei uns, mal in der Gemeinde. Wir sind auch zusammen ausgegangen. Es kamen auch jüdische Freunde aus anderen Städten, aus Münster, aus Gelsenkirchen zu uns nach Dortmund. Es war eine kleine Gemeinde, aber eine sehr gemütliche.« Dass sie heute in der Gemeinde nicht mehr im Mittelpunkt stehen, stört sie eigentlich nicht. Sie wollen weiter zu den Gemeindefeiern kommen und am Tisch der Alteingesessenen die alten Freunde treffen.
Der Gottesdienst an diesem Schabbat ist gut besucht. Unten sitzen etwa 70 Männer, oben vielleicht 80 Frauen. Ein junger Rabbiner, ein stimmgewaltiger Kantor, der die hebräischen Namen von vielen Männern auswendig kennt, ein paar junge Leute und einige fromme Männer, die sich zum stillen Mussaf-Gebet einen ungestörten Platz außerhalb der Bankreihen suchen. Der Wechselgesang ist wie er sein muss, getragen von mehr Betern als den etwa zehn Alteingesessenen. »Hier bei den neuen Mitgliedern aus Russland sind einige, die mitmachen im Gottesdienst. Entweder die wussten das noch, ein paar Alte sprechen auch etwas jiddisch, oder sie haben es hier gelernt«, erklärt Udo Melzer. Sechs Jahre war er alt, als er Dortmund 1938 verlassen musste. Er konnte mit seiner Familie in Italien überleben. 1950 kamen sie zurück. Udo Melzer ist eines der ältesten Mitglieder der Gemeinde. Sie ist und bleibt seine Heimat, sagt er, hier kann er Jude sein.
Im großen Gemeindesaal beim Kiddusch haben die Redner mittlerweile alles gesagt und übersetzt. Die Stimmung ist lebendig. Viele singen mit beim hebräischen Tischgebet. Russisch oder deutsch sprechen, das ist jetzt kein Thema mehr. Eine Stimme fragt auf Deutsch mit russischem Akzent: »Möchten Sie noch etwas Hering?« Die Dortmunder Gemeinde scheint also auch mit den Zuwanderern eine Familie zu sein, nur eben eine größere.