Herr Sloterdijk, der amerikanische Politologe Daniel Jonah Goldhagen schlägt vor, ein Kopfgeld in Millionenhöhe auf die Anführer von Völkermorden auszusetzen. Was halten Sie davon?
Goldhagen würde mit seinem moralistischen Interventionismus immensen Schaden anrichten, sollte er politisch ernst genommen werden – was Gott sei Dank nicht geschehen wird. Das Beste, was man mit solchen Einwürfen anfangen kann, ist, sie freundlich zu ignorieren. Die unvermeidliche Konsequenz seines Vorschlags wäre die Entstehung einer internationalen Moralmafia, die sich die Rolle des Jüngsten Gerichts auf Erden anmaßt.
Was wäre denn ein besser geeignetes Vorgehen, um Völkermorde zu verhindern?
Allgemein gilt, dass Völkermorde dort stattfinden, wo es zu viele junge Männer gibt, die um Positionen kämpfen und die im Stellengitter ihrer Gesellschaft keine Anschlüsse finden. Daher weichen sie in terroristische Karrieren aus. Goldhagen selbst ist von seinem Temperament her einem Offizier in einer Jungmännerbrigade zu vergleichen, der einen spektakulären Einsatzort und eine glänzende Karrierechance sucht. Im Übrigen gilt: Die adäquate Antwort auf Völkermorde ist maßvolle Populationspolitik, das heißt, die Zurückführung von gefährlichen Geburtenüberschüssen auf zivilisierte Maßstäbe. Es ist eine Tatsache, dass Genozidphänomene in einer Kultur mit zwei Geburten und weniger pro Frau nicht auftreten. Das zeigt die Perspektive auf, die man wählen muss, um aus der Misere herauszufinden. Nach dem Rückzug der Israelis aus dem Libanon wurde ein erneuter blutiger Bürgerkrieg prognostiziert, der aber wegen der niedrigen Geburtenrate im Land nicht stattfand. Es war ganz einfach niemand da, um so einen Krieg zu führen. Bei einer Geburtenrate von unter zwei Kindern pro Frau gibt es nicht genügend junge Männer, um sich in langen Kriegen gegenseitig abzuschlachten: Jeder Einzelne wird für die normale Reproduktion gebraucht – und so soll es sein. Kriege werden immer mit den Überschüssigen geführt.
Goldhagen sagt, die gefährlichste genozidale Bewegung der Gegenwart sei der politische Islam, der eine totalitäre Vision habe, wie Gesellschaften regiert werden sollten, einschließlich der Eliminierung all jener, die diese Vision nicht akzeptieren.
Goldhagen gehört nicht zu den Autoren, die man zitieren muss, wenn es um eine Erklärung des politischen Islam geht. Es gibt eine Reihe von ausgewiesenen Orientalisten wie Gilles Kepel oder Olivier Roy, die hierüber gesagt haben, was zu sagen ist. Die hysteroiden Projekte im Islam, auf die sich Goldhagen bezieht, repräsentieren nur eine kleine Minderheit, die sich durch apokalyptische Ideen verführen lässt. Im Übrigen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Goldhagen schriebe vor allem für ein deutsches Publikum und spekuliere auf den Erfolg, den seine Thesen nur hierzulande haben können.
In Ihrem neuen Buch befassen Sie sich mit totalitären Systemen und verwenden bei der Erklärung des Nationalsozialismus den Begriff des »Krüppelexistenzialismus«.
Der Existenzialismus ist im Wesentlichen eine Philosophie für Verlierer. Bei der Formulierung der von mir Trotzexistenzialismus genannten Philosophie spielte die Selbsterfahrung des behinderten Menschen die entscheidende Rolle. Nietzsche war ein typischer Vertreter des Behindertenexistenzialismus, nicht zuletzt aufgrund seiner damals unerkennbaren und unbehandelbaren chronischen Krankheit. Vor solchem Hintergrund haben sich Kompensationstheorien entwi-ckelt, aus denen bis heute viele Menschen Kraft ziehen, wenn sie sich in einer schwierigen Lage befinden. In den 20er-Jahren stellte sich heraus, dass Trotzphilosophien dieses Typs leicht von politischen Protestbewegungen unterwandert werden können.
Der Nationalsozialismus als pervertierte Form des Existenzialismus?
Ja. Der Nationalsozialismus hat seine Anhänger aus einem Feld rekrutiert, die Dostojewski die Erniedrigten und Beleidigten genannt hat, obschon die Betroffenen sich selbst lieber in Bildern von Stolzen und Starken erkennen wollten. Unter eklatanter Abwandlung der trotzphilosophischen Doktrinen legte die nationalsozialistische Be- wegung ihren Akzent auf Gesundheit und Vitalität – dabei waren die Behinderungen der Naziführer mit Händen zu greifen. Goebbels wurde in der zeitgenössischen Literatur als exemplarischer Vertreter des »Deformationskrüppeltums« präsentiert. Adolf Hitler wäre als psychologischer Krüppel zu charakterisieren gewesen, ein Mensch, der völlig beziehungsunfähig war und sich nur durch hysteroide Entladungen bei Reden vor großer Menge Befriedigung verschaffen konnte. Um von Göring als personifiziertem Suchtkrüppel mit schwerer Adipositas-Komponente zu schweigen. Auf der Ebene des Führungspersonals ist leicht nachzuweisen, dass der Nationalsozialismus eine sich selbst verleugnende Behindertenbewegung war.
Sie haben sich im Rahmen Ihres Werkes auch intensiv mit jüdischen Denkern beschäftigt. Gab es darunter welche, die für Sie besonders prägend waren?
Um diese Frage richtig zu beantworten, müss-te ich ein dickes Buch schreiben, denn meine Lektüre jüdischer Autoren und Philosophen ergibt einen Roman für sich. Ich habe im Alter von vierzehn Jahren begonnen, mir die Welt der Literatur und der Philosophie zu erschließen, darunter eine Fülle jüdischer Autoren. Ich habe ein altes und kompliziertes Verhältnis zu Adorno und eine ebenso lange und zerklüftete Beziehung zu Ernst Bloch. In jungen Jahren habe ich viel Husserl und Wittgenstein gelesen, ohne je daran zu denken, dass sie der Herkunft nach Juden waren. Und was sollte ich über Kafka und Hermann Broch sagen – eine Zeit lang war vor allem der Letztere mein Held. Später kamen Autoren wie Emmanuel Levinas und Jacques Derrida ins Blickfeld – über Letzteren habe ich in den letzten Jahren zwei kleine Bücher geschrieben.
Welchen Stellenwert hat für Sie der 1987 verstorbene Berliner Philosoph Jakob Taubes, mit dem Sie in Kontakt standen?
Auf der persönlichen Ebene war er für mich von hoher Bedeutung, eine umstrittene und abgründige Person, überdies ein erbitterter Gegner von Gershom Scholem und einer der wenigen Denker, die mit existenziellem Ernst über den Preis des Messianismus und über die Rolle des Paulus in der spirituellen Weltgeschichte nachgedacht haben. Taubes war ein bekennender Apokalyptiker – er favorisierte die Idee, dass es mit dieser Welt nicht mehr lange so weitergehen kann. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Welt nach allem, was geschehen ist, noch immer ungeniert fortbesteht, erscheint einem der Glaube an die Möglichkeit eines baldigen Endes als Ausdruck eines unerschütterlichen religiösen Optimismus.
Haben Sie im Laufe Ihrer intellektuellen Karriere so etwas wie eine Theorie entwi-ckelt, die den zeit- und kulturübergreifend existenten Judenhass zu erklären vermag?
Ich glaube, man erweist dem Wahnsystem des politischen Rassismus zu viel Ehre, wenn man seinen stupiden Grundbegriff »semitisch« beziehungsweise »antisemitisch« blindlings weiterbenutzt. Um so wichtiger ist es, die anderen Formen der Feindschaft gegen Juden und Judentum unter die Lupe zu nehmen, die aus älteren Quellen stammen und sich aus diversen Gründen regeneriert haben. Mir scheint, man kommt auf diesem Gebiet voran, wenn man die Phänomene beachtet, die Yuri Slezkine in seinem Buch »Das jüdische Jahrhundert« beschreibt. Ausgehend von der Geschichte des Milchmanns und seiner Töchter in dem Musical »Anatevka« rekapituliert er das Epos des Judentums des 20. Jahrhunderts, das er das jüdische nennt, in einem großen Zeitgemälde, indem er zeigt, dass es Juden waren, die in entscheidenden Vorgängen des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ob es die russische Revolution war oder die Schaffung der amerikanischen Unterhaltungsindustrie – häufig sah man jüdische intellektuelle Akteure an vorderster Front. Slezkine zeigt sehr suggestiv, wie die »merkuriale« jüdische Existenz den modus vivendi der Bodenständigen chronisch irritierte.