Ob sich ihr Leben durch ihre Forschungen verändert habe? Erika Rosenberg stockt einen Moment lang, dann holt sie tief Luft und sagt: »Mein Sohn hat sich von mir distanziert.« Ihr Sohn, 35 Jahre alt, hat in Deutschland Abitur gemacht, ist Rechtsanwalt und Universitätsdozent in Buenos Aires und will, wie mancher dort, von Nationalsozialismus, von Konzentrationslagern und Holocaust nichts mehr hören. Es gibt nach all den Jahren der Militärdiktatur ein Verlangen nach Vergessen.
Aber Erika Rosenberg kann nicht vergessen. Die 58-Jährige ist Tochter jüdischer Emigranten, die 1936 aus Deutschland über Paraguay nach Argentinien fliehen mussten. Sie weiß, was es heißt, verfolgt und verfemt zu sein. Sie hat die Geschichte von denen, die ihr Leben vor den Nazis retten mußten, hundertmal gehört und ihren Studenten am Goethe-Institut in Buenos Aires hundertmal erzählt. Deshalb fragt sie 1990 der Chefredakteur der deutschsprachigen Zeitung Argentinisches Tageblatt, ob sie schon mal von dem Ehepaar Schindler gehört habe, jenem Unternehmerehepaar, das in Krakau und später im tschechischen Brünnlitz rund 1.300 Juden vor der Ermordung durch die Nazis gerettet habe. Frau Schindler, erzählt der Journalist weiter, lebe in Argentinien.
Erika Rosenberg will mehr wissen, beginnt, die Frau zu suchen. Mithilfe des deutschen Konsulats findet sie schließlich eine alte Dame, die Schindler heißt. Die über 80-Jährige ist tatsächlich die Witwe des damals noch unbekannten Judenretters, dessen Geschichte erst 1993 durch Steven Spielbergs Film weltberühmt werden wird. Die alte Dame ist zunächst skeptisch, als Erika Rosenberg 1990 bei ihr auftaucht. Ihr Ehemann Oskar, mit dem sie nach dem Krieg nach Argentinien gegangen war, hatte sie bald wieder verlassen, war nach Deutschland zurückgekehrt und dort verstorben. Emilie Schindler lebt seitdem arm und zurückgezogen. Jüdische Organisationen helfen ihr, die Miete für ihre kleine Wohnung zu bezahlen.
Es braucht Zeit, das Misstrauen zu überwinden. Langsam kommen sich die beiden Frauen näher, mit jedem Treffen ein Stück mehr. »Aus den ersten Gesprächen entstand schließlich eine tiefe Freundschaft«, berichtet Erika Rosenberg. Und Emilie Schindler erzählt. Wie sie die Affären ihres Mannes stumm ertragen hat. Wie sie persönlich kurz vor Kriegsende in Brünnlitz 120 Juden eines Transportes in den Tod als Arbeiter aufnahm, um sie vor dem Konzentrationslager zu retten. Wie sie nach Kriegsende von den geretteten »Schindler-Juden« Unterstützung erfuhr, um selbst zu überleben. Aber auch, wie sie vergessen wurde. »Es hat sie sehr verletzt, als sie im Rahmen der Dreharbeiten von Spielberg eingeladen wurde, weil er sie für eine Überlebende hielt.«
Erika Rosenberg schreibt all das in Büchern auf. Sie setzt sich dafür ein, dass Emilie Schindler von deutschen Behörden finanzielle Unterstützung erhält. Und dafür, dass die Witwe für ihr Handeln gewürdigt wird. 1993 wird Emilie Schindler von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Jetzt, an ihrem Lebens-abend, erfährt sie endlich die Anerkennung, die ihr jahrzehntelang versagt geblie- ben war. Sie kehrt nach Deutschland zurück, tritt bei Veranstaltungen auf. 2001 stirbt Emilie Schindler nach einem Schlaganfall in Strausberg bei Berlin. Nun ist es an Erika Rosenberg, ihre Geschichte weiterzuerzählen. Das tut sie in den kommenden Wochen bei Veranstaltungen in Krakau, Wien und zahlreichen deutschen Städten. Denn: »Es ist so wichtig, dass junge Leute verstehen, was man tun kann. Und tun muss.« Steffen Reichert
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