von Gabriele Lesser
Die Szene vor der Lubliner Rabbinerschule im Südosten Polens wirkt so weltent-
rückt wie ein Chagall-Bild: Hoch oben fliegen Rabbiner scheinbar in den eisblauen Himmel. Am Boden schwenken hunderte dick eingemummte Menschen ihre Wollmützen und Lederkappen. Je höher der Kran die Hebebühne mit den drei schwarz gekleideten Männern hebt, um so lauter und jubelnder wird die Musik. Schließlich ein Fanfarenstoß, und eine lila Stoffplane flattert im Wind. Auf dem Giebel des imposanten fünfstöckigen Gebäudes ist wieder die hebräische und polnische Originalinschrift zu sehen: »Jeschiwas Chachmej Lublin«, darunter »Rabbiner Majer Szapiro«, der Name des Gründers dieser einst weltberühmten Rabbinerschule. Schließlich noch ein Psalm König Davids: »Kommet her, ihr Söhne, höret mir zu! Ich will euch Gottesfurcht lehren.«
Ungewöhnlich ist diese Szene in jeder Hinsicht. Denn zum ersten Mal seit dem Holocaust hat die jüdisch-orthodoxe Gemeinde Polens aus eigener Kraft eine ehemalige Synagoge und Rabbinerschule wieder instand gesetzt. Weder der Staat noch ausländische Spender halfen mit, wie bei den meisten Synagogen in Krakau, die heute als Museen oder touristische Attraktionen dienen. »Das ist ein Signal an die Welt«, erklärt Polens Oberrabbiner Michael Schudrich. »Wir sind wieder da. Nicht so zahlreich natürlich wir früher. So wie vor dem Holocaust wird es nie wieder werden. Aber ein Anfang ist gemacht. Und nun geht es voran.«
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Polen rund 3,5 Millionen Juden, ein Zehntel der Bevölkerung und die größte jüdische Diaspora der Welt. Wie Wilna, Warschau, Krakau und Lemberg gehörte Lublin zu den geistigen und kulturellen Zentren des polnischen Judentums. Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich hier die mystische Bewegung des Chassidismus. Bis heute verehren Chassiden in aller Welt Rabbiner Jakub Ichak Horowitz, den »Seher von Lublin«. Er verkündete, dass man Gott nicht nur durch ernste Gebete, das Talmud- und Tora-Studium nahe sein könne, sondern jederzeit im Alltag – am ehesten aber durch fröhliche Gesänge und Tänze.
Die 1930 gegründete Rabbinerschule »Jeschiwas Chachmej Lublin« knüpfte an diese Tradition an. Innerhalb kurzer Zeit zog sie Studenten und Gelehrte aus aller Welt an. Zwanzig Vorlesungs- und Seminarräume, eine Bibliothek mit 40.000 Bänden Judaica, die Nachbildung des Tempels in Jerusalem zu Lehrzwecken wie auch der große Garten ließen Lublin zum »jüdischen Oxford« werden.
David Tenenbaum ist eigens aus New York gekommen. »Ich kenne diese Synagoge noch aus Vorkriegstagen«, erzählt der 78-Jährige. »Wir waren eine angesehene chassidische Familie. Ich wusste schon mit fünf Jahren ganz genau, dass ich bei Rabbiner Majer Szapiro studieren wollte.« Dazu kam es nicht mehr. Nach dem Einmarsch der Nazis 1939 wurde die Schule in einen Gendarmerieposten umgewandelt, die Judaica-Sammlung zerstört. Fast alle 42.000 Juden, die 1939 in Lublin lebten, wurden erst ins Ghetto getrieben, schließlich in Majdanek, dem zweitgrößten Vernichtungslager nach Auschwitz, umgebracht. »Von meiner Familie hat nur einer überlebt – ich«, sagt Tenenbaum. Nach dem Krieg emigrierte er, wie die meisten Überlebenden des Holocaust in Polen. Heute leben in Lublin gerade mal 30 Juden, zu wenig, um den Status einer selbstständigen Gemeinde zu erhalten.
»Für uns ist diese Synagoge zu groß«, sagt Roman Litman, der Vorsitzende der Lubliner Juden. »Wir können dieses riesige Gebäude mit unseren bescheidenen Mitteln gar nicht bewirtschaften. Da müssen uns die Warschauer helfen.« Tatsächlich hat der Jüdische Gemeindeverband in Warschau auch schon die Stelle eines Verwaltungsdirektors für Lublin ausgeschrieben. Managementqualitäten sind gefragt. Denn im Gebäude der ehemaligen Rabbinerschule, das nach dem Krieg als medizinische Akademie genutzt wurde, soll demnächst das erste europäische Museum des Chassidismus eröffnet werden. Geplant sind außerdem ein Hotel für die zahlreichen jüdisch-orthodoxen Pilger, die alljährlich nach Polen kommen sowie ein koscheres Restaurant. Piotr Kadlcic, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindeverbands in Polen, hat jedoch einen Traum, der noch weiter geht: »Wer weiß, vielleicht kehren ja in einigen Jahren Talmudschüler nach Lublin in diese Rabbinerschule zurück.«