zuwanderer

»Die Menschen sind so freundlich hier«

von Vera von Wolffersdorff

Alla Perelman hüpft beinahe über die Schwelle, als sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnet. Sie sprüht förmlich vor Energie. Mit ihrem dunkelblonden Kurzhaarschnitt wirkt sie ziemlich sportlich, die graublauen Augen strahlen. Ihre 52 Jahre sieht man ihr nicht an.
1994 wanderte sie mit ihren Eltern von St. Petersburg nach Deutschland aus. Seitdem lebt sie in Straubing. Inzwischen hat sie eine feste Stelle als Deutschlehrerin in der Jüdischen Gemeinde dort. »Das hat sich nach und nach so ergeben. Und ich bin sehr froh darüber. Der Vorstand, Herr Offman, unterstützt mich sehr«, erzählt sie. Siebzig Erwachsene und zwölf Kinder unterrichtet sie. Nicht alle sind Juden, auch einige Aussiedler sind dabei.« Es heißt immer, Kinder lernen eine fremde Sprache ganz von selbst. Aber das stimmt nicht. Sie machen viele Fehler, können oft die Grammatik nicht richtig oder haben Probleme beim Schreiben. Und da kann ich ihnen helfen.« Alla strahlt über das ganze Gesicht, wenn sie von ihren Schülern spricht.
Viele Einwanderer konnten während der vergangenen Jahre in Arbeitsamtskursen Deutsch lernen, aber wer über 65 Jahre alt war, durfte dies nicht. Und Alla Perelmans erwachsene Schüler sind oft weit über 60. Sie zuckt mit den Schultern: »Was sollen diese Leute denn tun? Viele erzählen mir, daß sie manchmal beim Bäcker nicht beachtet werden und ein Busfahrer unfreundlich ist, einfach nur, weil sie die Sprache nicht beherrschen. Oder die Nachbarn grüßen sie nicht.« Diese Erfahrung hat Alla Perelman nie gemacht. »Die Sprache öffnet die Tür zum Leben in einem fremden Land.«
Alla sagt, das Glück, das sie einem Schüler ansieht, wenn er oder sie es geschafft hat, allein einen Termin beim Arbeitsamt oder beim Arzt zu vereinbaren, mache ihr eine Riesenfreude. Insgesamt kamen seit 1993 etwa 3.300 russische Einwanderer nach Niederbayern, etwa 2.000 davon waren jüdische Kontingentflüchtlinge. Heute leben rund 1.400 von ihnen in der Kleinstadt Straubing.
Sehr konzentriert und überlegt formuliert Frau Perelman jeden ihrer Sätze. Die deutsche Grammatik beherrscht sie virtuos. Sie selbst fing an, Deutsch zu lernen, als sie überlegte, bald auszuwandern. Und sie lernte weiter, nachdem sie in Straubing angekommen war. Bis heute nimmt sie hin und wieder eine Stunde Privatunterricht. Ihr Akzent verleiht ihrem Deutsch eine spezielle persönliche Note. Achtsam, fast bedächtig drückt sie sich aus, und diese kontrollierte Achtsamkeit legt sie offenbar auch sich selbst gegenüber an den Tag: Alla Perelman ist zierlich und sehr schlank. »Ja, mit dem Essen passe ich schon ein wenig auf«, gibt sie zu und wackelt kurz mit dem Kopf hin und her, als fühle sie sich bei einer winzigen Eitelkeit ertappt. Auf dem Regal an der Wohnzimmerwand stehen filigrane Porzellanfiguren. »Vom Flohmarkt«, meint sie. Da gehe sie heute nicht mehr hin, fügt sie trocken hinzu, aber sie wollte eben alles schön haben bei ihrem Einzug in ihre Wohnung. »Schön mußte es sein«, wiederholt sie sehr entschieden.
Geboren und aufgewachsen ist Alla Perelman in St. Petersburg. Ihre Eltern und Großeltern, die ganze Familie lebte seit Generationen in der Stadt. Sie waren Juden, aber Alla erzählt, daß sie vom Judentum nicht viel mitbekam, schließlich war religiöses Leben im sowjetrussischen Staat nicht erwünscht. Besuche in Synagogen waren verboten. Obwohl sie eine exzellente Schülerin war, erhielt Alla für das Studium ihres Traumberufs Journalistin keine Zulassung – weil »Jüdin« in ihrem Paß stand. Statt dessen schrieb sie sich an der Petersburger Universität für den Studiengang Elektrotechnik ein, wurde Ingenieurin und hielt ab 1976 Seminare und Vorlesungen als Dozentin.
Zahllosen Studierenden brachte sie die Grundlagen der Videotechnik bei. »Interessant war das, natürlich. Auf dem Gebiet veränderte sich viel, und die Technik wurde immer besser. Ich mußte immer mitlernen«, erinnert sie sich. Das Lernen fasziniert sie bis heute – und sie unterrichtet gerne: »Beides mache ich hier auch. Ich erfahre andauernd Interessantes über das Judentum und seine Geschichte. Ich empfinde mich jetzt als Jüdin. Wenn ich etwas nicht weiß, frage ich den Rabbiner, und was ich erfahre, gebe ich an meine Schüler weiter.«
Und weil Alla Perelman zudem gerne schreibt, hat sie vor zwei Jahren ein sehr praxisnahes Deutsch-Lehrbuch verfaßt: Für russische Einwanderer, die Deutsch lernen möchten. Es trägt den feinsinnigen Titel Leben auf Deutsch, verkauft sich gut und die Reaktionen darauf bestärken sie, bald ein zweites zu schreiben. Verlegt wurde es in St. Petersburg mit einer Auflage von 3.500 Stück, etwa 300 Exemplare hat sie noch übrig. Ein begeisterter deutscher Leser aus Dresden, selbst Kenner der – wie er schreibt – »russischen Seele« schrieb ihr, daß ihr das beste Deutsch-Lehrbuch für Russen gelungen sei, das er je gelesen habe. Darauf ist Alla stolz. »Das ist wie eine Goldmedaille für mich.« Außerdem arbeitet sie gerade an einem Krimi – für ihre Schüler.
Warum sie vor zwölf Jahren nach Deutschland kam? Ihre Mutter litt an einer seltenen Wirbelsäulenkrankheit. Sie war pflegebedürftig und hatte ständig Schmerzen. 1994, als die Sowjetunion sich auflöste, arbeitete Alla Perelman zwar noch an der Hochschule, doch ihr Gehalt wurde nicht mehr regelmäßig gezahlt und das Geld für die teuren Medikamente, die ihre Mutter brauchte, wurde knapp. Eigentlich wollte die Familie damals nach Israel auswandern, doch das Klima dort war zu heiß für Allas Mutter. Also Deutschland. Sie war noch nie in Deutschland gewesen, doch das Land schien ihr mehr als vertraut. »Ich hatte doch gelesen«, sagt sie in einem Tonfall, der nahelegt, daß man sich durch nichts besser aufs Auswandern vorbereiten könne als durch das Lesen von Romanen: »Feuchtwanger, Thomas Mann, Gedichte von Heine und Goethe natürlich. Auch Kafka und Hesse.« Kafka ist ihr Lieblingsschriftsteller. Sie schwärmt von seinem filmischen, bildhaften Stil.
Noch als Studentin hatte sie die Novelle Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig in ein Drehbuch umgeschrieben, das dann auch verfilmt wurde. Alla lächelt. »Ach, das ist schon so lange her.« Wenn sie so lacht, streckt sie sich ein bißchen nach oben, als ob sie kichernd über sich selbst hinauswachsen wollte. Ihre Vorstellung von Deutschland jedenfalls wurde nicht enttäuscht: »Die Menschen sind so freundlich hier.« Und ihr erster Eindruck? »Daß es so sauber ist. Überall. Schon am Flughafen fiel mir das auf.« Sie kam nach Straubing und suchte eine Wohnung für sich und eine für ihre Mutter und den Stiefvater, die beide kurze Zeit später nachreisten. Ihr Lebensgefährte allerdings blieb in Rußland.
Von ihrem Apartment aus hat sie einen weiten Blick über die Häuser von Straubing, die angrenzenden Felder und Hügel. Es gefällt ihr gut in ihrer neuen Heimat, sie fühlt sich wohl in der jüdischen Gemeinde, aber Sehnsucht nach St. Petersburg hat sie trotzdem. Das kulturelle Leben einer Großstadt, die Konzerte und Theateraufführungen vermißt sie. Früher ging sie zwei- bis dreimal in der Woche in ein Konzert. Heute hört sie meistens CDs.
Einmal im Jahr reist sie zurück. »Ich will nicht nach Frankreich, nicht nach Italien, ich möchte immer nur nach St. Petersburg«, sagt sie, und es klingt, als wundere sie sich ein bißchen über sich selbst. Aber sie hat nach wie vor ihre Freunde und Bekannten dort, Künstler, Professoren, Intellektuelle. Doch dort wieder leben? »Alles ist so teuer geworden in St. Petersburg. Ich wüßte nicht, wie ich mir das heute leisten könnte«, meint sie. Sie beobachtet die Veränderungen in Rußland kritisch. »Die geistige Seite des Lebens spielt bei jüngeren Menschen nicht mehr eine so große Rolle wie früher. Die Leute gehen noch in Konzerte und ins Theater, aber dennoch hat sich etwas in den Menschen verändert.« Ihre Aufgabe sieht Alla Perelman nun in Straubing: Sie besteht darin, das, was sie kann und gelernt hat, an andere weiterzugeben. Und das, betont Alla, sei für sie das Wichtigste im Leben.

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