von Anastasia Telaak
Menschliche Tragik kommt bei der französischen Dramatikerin Yasmina Reza häufig im Gestus des Trivialen daher. In ihren Theaterstücken nimmt sie die Neurosen bürgerlicher Existenzen aufs Korn und übt Kulturkritik in gehobenem Boulevard-Stil. So auch in ihrem Drehbuch Le pique-nique de Lulu Kreutz, das 1998 von Didier Martiny verfilmt und zwei Jahre später mit Philippe Noiret und Stéphane Audran in den Pariser Kinos zu sehen war. Picknick mit Lulu Kreutz, so der Titel der im Schweizer Libelle Verlag erschienenen deutschen Fassung, greift in der Figur des gefeierten jüdischen Cellisten Jascha Steg zunächst die Binsenweisheit auf, dass Erfolg nicht alles im Leben ist: Bei einem Konzert im gediegen-provinziellen Kurort Évian-les-Bains, zu dem Jascha seinen Vater Joseph, seine Mutter Olga und deren Bruder Michel Mazelsky geladen hat, flammt seine frühere Leidenschaft für seine einstige Geliebte, die Orchesterviolinistin Anna Ghirardi, wieder auf. Doch die weist ihn brüsk ab. Weder mit rasend-pathetischen Liebesbekenntnissen, noch mit seinem allein ihr gewidmeten Spiel (Bach und Schumann in Moll) vermag Jascha sie zurückzuerobern. Anna mimt zunächst die treue Ehegattin ihres Mannes Primo, eines tölpelhaften Amphibienforschers, den sie in Wirklichkeit verachtet, gibt Jaschas Werben schließlich nach, nur um dann wieder kopflos Zuflucht bei Primo zu suchen.
Jascha ist nicht das einzige Familienmitglied, das von früheren Affären wieder eingeholt wird. Nahe Evian lebt Lulu Kreutz, die einstige Verlobte seines Vaters. Lulu lädt die gesammelte Mischpoche zu sich nach Hause in die Berge ein. Mit treffsicherem Witz zitiert Reza klassische Stereotypen aus der französischen Großbourgeoisie, verschränkt mit Klischees über das assimilierte Judentum: Joseph ist der erfolgreiche, unvermeidlich hypochondrische Textilunternehmer, der in Sohn Jaschas brillantem Spiel stolz und nostalgisch das ferne Timbre seiner ostjüdischen Herkunft zu vernehmen glaubt. Die stets wie aus dem Ei gepellte Olga geriert sich als Grande Dame, wird sehr zu ihrem Missfallen jedoch als nervöse Glucke identifiziert, eine typische jiddische Mamme. Onkel Michel wiederum folgt dem Bild des verwegen-»ordinären« Frauenhelden, der zu kultivierten Depressionen neigt. Nur Lulu fällt aus dem Rahmen: Ihre vorbehaltlose Sinnlichkeit lässt bei den anderen all ihr unerfülltes Begehren, ihre Einsamkeit, die Bitternis verfehlten Lebens und eine tiefe Orientierungslosigkeit unübersehbar hervortreten. Bis auf Jascha reagieren sie darauf mit der gewohnten Inszenierung mediokren Glücks, fadenscheiniger Sinnfülle und nicht zuletzt mit zerfaserten, von Verfolgung und Flucht geprägten ostjüdischen Identitätsmustern.
Als die Desillusionierung vollkommen ist und alle Protagonisten den geordneten Weg zurück in den sicheren Schoß des schon bekannten Scheins trotten, wagen nur Jascha und Lulu eine letzte mystische Geste: Ausgelassen, »wie zwei Verrückte«, heißt es in dem Drehbuch, stürzen sie durch Schlamm und Dornengestrüpp einen gefährlichen Abhang abwärts und erheben sich beim Sprung über eine Vertiefung in die Luft, begleitet von jubelnden Klesmerklarinetten. Das Happy-End erscheint jedoch wie ein allzu vergänglicher Traum: »Das Bild bleibt ste- hen«, so der Text. »Dann verblasst es langsam.«
yasmina reza: picknick mit lulu kreutz
Übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Libelle, Zürich 2008, 116 S., 16, 90 €