von Micha Brumlik
Die Faszination, die von Sigmund Freud und seinem Werk ausgeht, scheint allen Anfeindungen zum Trotz ungebrochen. Der Freud allerdings, der anläßlich seines 150. Geburtstages am 6. Mai dem Publikum von den Massenmedien präsentiert wird, scheint nach wie vor der Entdecker der menschlichen Sexualität und ihrer Geheimnisse zu sein; gerade so, als ob es keine sexuelle Revolution, keine Überfütterung mit nacktem Fleisch und keinen Überdruß an intimen Geständnissen im Hausfrauenfernsehen gegeben hätte.
Darüber gerät ein Denker ins Hintertreffen, der der Gegenwart und Zukunft sehr viel beunruhigendere Hinweise auf das menschliche Zusammenleben geben kann.
Sigmund Freud war, das wird meist übersehen, ein Moralist, freilich kein Moralist des erhobenen Zeigefingers, sondern der kühlen Analyse: Die Menschen bedürfen – ob sie es wollen oder nicht – der Moral. Aber, anders als naive Menschenfreunde meinen, ist Moral nicht ohne Anstrengung und ein gewisses Maß an Disziplin und damit auch Repression zu haben, Repression und Disziplin, die ihrerseits Aggression freisetzen können. Davon handelt Freuds 1930 erschienene Schrift Vom Unbehagen in der Kultur. Dort geht es nicht in erster Linie um die Zügelung und Kanalisierung des sexuellen Begehrens, sondern um etwas viel Unheimlicheres, um das Psychologie und Sozialwissenschaften nach wie vor einen großen Bogen machen: den Todestrieb, also den tiefsitzenden Wunsch, nicht nur andere zu töten, sondern auch selbst zu sterben. Das Wirken dieses Todestriebs läßt sich in der gegenwärtigen Weltsituation am deutlichsten im Nahen Osten beobachten, wo einige Gesellschaften geradezu von einem Todesrausch besessen zu sein scheinen.
Seit in den siebziger Jahren japanische Selbstmordattentäter die israelfeindliche palästinensische Guerilla mit dem im faschistischen Japan kultivierten Kamikazekult bekannt gemacht haben, ist der Selbstmordattentäter wie er sich täglich im Irak offenbart und wie er in den Palästinensergebieten politisch gesteuert eingesetzt wird, zu einer beinahe vertrauten Gestalt der weltpolitischen Bühne geworden. Junge Männer, die mit Kalaschnikow, Koran und verhülltem Haupt vor Videokameras posieren und ihrem Leben keinen anderen Sinn geben können, als im Sterben noch möglichst viele mit sich zu reißen: in Israel Juden, im Irak Schiiten, Christen, Besatzungstruppen und, und, und …. Die fanatischen Massen indes, die im Iran einem faschistoiden Präsidenten und seinen Atomplänen zujubeln, scheinen nicht wahrnehmen zu wollen oder zu können, wie sehr sie sich und ihre Gesellschaft damit in Gefahr bringen. Und was ist von palästinensischen Müttern zu halten, die stolz darauf sind, viele ihrer Söhne dem »Heiligen Krieg« ge-opfert zu haben? Was spricht aus dieser so nur noch bei den antiken Spartanern bekannten Form pervertierter Mütterlichkeit?
Das alles kann nicht heißen, daß islamische Gesellschaften grundsätzlich mehr zu einer »Unkultur des Todes« neigen als westliche Gesellschaften. Wohl aber kann es heißen, daß die sozialen Bedingungen, unter denen sie gegenwärtig existieren, der Freisetzung des bei allen Menschen und in allen Kulturen vorhandenen Todestriebs in besonderem Maße Vorschub leisten. Üblicherweise wird individuelle oder kollektive Gewalt als Reaktion auf Streß, Gesetzlosigkeit und Frustration gedeutet. Was aber, wenn es hier gar nicht um eine Reaktion, sondern um einen Verfall der dünnen Dämme geht, die diese Gesellschaften gegen das Durchbrechen des Todestriebs errichtet haben?
»Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.« Diese Parole haben die Attentäter von Madrid hinterlassen und damit sinnigerweise das Erbe der spanischen Faschisten angetreten, die ihren Kampf gegen die Republik unter dem Motto »Viva la muerte« führten. Aber nicht nur bei katholischen Faschisten oder Islamisten manifestiert sich der Todestrieb, auch jene jüdischen Fundamentalisten, die in Hebron bis heute das Grab des jüdischen Selbstmordattentäters Baruch Goldstein ehren, sind offensichtlich vom Sog des Tötens und Sterbens erfaßt, und die Che Guevara zugeschriebene Formel »Patria o muerte« ist von der dem frühen zionistischen Helden Josef Trumpeldor zugeschriebenen Aussage »Tov lamut bead arzeinu« (Es ist gut, für unser Land zu sterben) nicht so weit entfernt.
Sigmund Freud, der als bewußter Jude ebenso vorsichtig wie programmatisch für einen menschlichen »Fortschritt in der Geistigkeit« eintrat, wußte, daß er mit der Annahme des Todestriebes an ein letztes Tabu rührte. Ebenso klar war ihm, daß die Frage nach der Einhegung des Todestriebes nicht einfach zu beantworten war. Sich der Herausforderung dieses Unheimlichen ohne Selbstgerechtigkeit zu stellen, könnte ein erster Schritt in Richtung auf eine skeptisch gewordene »Kultur des Lebens« sein.
Von Micha Brumlik ist vor kurzem erschienen: »Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts« (Beltz Verlag).