von Katharina Born
Bereits bevor der 39jährige US-Amerikaner Jonathan Littell vergangenen Montag den begehrtesten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, verliehen bekam, mischte sein Roman Les Bienveillantes die französische Literaturszene gewal tig auf. Mehr als eine Viertelmillion Exemplare des 900 Seiten starken Debütwerks sind seit seinem Erscheinen Ende August verkauft worden. Die Geschichte eines hochgebildeten deutschen SS-Offiziers, der den Holocaust aus nächster Nähe mitbetrieben hat – im Salon der Eichmanns, in der Bohème des besetzten Paris, an der Ostfront und in Auschwitz– und der sich am Rande der französischen Nachkriegsgesellschaft seiner Erinnerungen ohne Reue zu entledigen sucht, wurde von der Pariser Presse fast einstimmig bejubelt: »Ein Meisterwerk«, schrieb der Nouvel Observateur, »eines der eindrucksvollsten Bücher, die je über das Nazitum geschrieben wurden«, hieß es in Le Monde. Auf der Frankfurter Buchmesse war der Ankauf der deutschen Rechte durch den Berlin Verlag für über 400.000 Euro Hauptgesprächsthema. Die amerikanischen Rechte sollen gar für eine Million weggegangen sein.
Es gab auch einige wenige kritische Stimmen. Die linke Tageszeitung Libération und das Szenemagazin Inrockuptibles sprachen von einer »Marketingstrategie à l’américaine«, von »ekelerregenden Szenen im Matsch«, einer knirschenden Konstruktion und teilweise überfrachteter Täterpsychologie des Muttermörders, der schon durch den Titel an Aischylos Orestie erinnern soll. Größtenteils anonym wurde Littells Buch gar Antisemitismus oder Holocaust-Leugnung unterstellt. Der Begei- sterung der großen Mehrheit von Publikum und Kritikern tat dies jedoch keinen Abbruch.
Auch Claude Lanzmann, der Regisseur der legendären bahnbrechenden Zehnstunden-Dokumentation Shoah drang mit seiner Argumentaion nicht durch. In einer Fernsehdiskussion mit Jorge Semprun, ehemaliger Buchenwaldhäftling und Mitglied der Goncourt-Jury, äußerte Lanzmann die Befürchtung, wie schon bei Spielbergs Film Schindlers Liste, könne die Tätergeschichte nur ein letztlich voyeuristisches Interesse am Grauen der Massenvernichtung wecken. Die müden Reaktionen auf die Debatte scheinen endgültig das Ende einer Ära einzuläuten, in der greise Zeitzeugen der Schoa einen Anspruch auf Deutungshoheit geltend machen konnten.
Der Erfolg des Romans scheint Indiz für ein neues Phänomen in Frankreich zu sein: Das Interesse verlagert sich weg von der Opfergeschichte, hin zur Täterperspektive. Das konstatierten übereinstimmend Wissenschaftler wie Pierre Nora, der Nestor der modernen Erinnerungsgeschichte, Denis Peschanksi, angesehener Historiker der französischen Internierungslager im Zweiten Weltkrieg, und der Literaturwissenschaftler Bruno Blanckemann.
Angesichts des immensen Erfolges des Buches, meinte der bekannte Kritiker Pierre Assouline in seiner Internetkolumne , habe die Jury des Goncourt gar nicht anders entscheiden können, als Littell den
Preis zu verleihen. Die Polemik gegen das zu Rcht erfolgreiche Buch könne getrost als Neid abgetan werden. Immerhin habe Littell, der zuvor bereits den Romanpreis der Académie Française erhalten hat, der
literarischen Produktion einer ganzen Saison die Aufmerksamkeit abgegraben.
Ein weiterer Grund für die Verleihung des zwar nur mit symbolischen zehn Euro dotierten, aber traditionell äußerst verkaufsfördernden Preises, dürfte französischer Kulturnationalismus sein. In Paris hat man mit großer Genugtuung registriert, daß hier ein US-Amerikaner auf Französisch ein Buch verfaßt hat, das ein weltweiter Bestseller zu werden verspricht. Kulturminister Donnedieu de Vabre, ein Vorkämpfer der »Frankophonie«, die gegen die Vorherrschaft des Englischen anzukämpfen versucht, bezeichnete Les Bienveillantes denn auch als eine »eindrucksvolle Hommage an die französische Sprache«.
Der 39jährige Littell ist Amerikaner osteuropäisch-jüdischer herkunft. Sein Vater, der Newsweek-Journalist Robert Littell, ist Autor vieler erfolgreicher Spionageromane. Jonathan Littell, der heute mit seiner Frau und zwei Kindern in Barcelona lebt, arbeitete nach seiner Schulzeit in Frankreich und war nach einem literaturwissenschaftlichen Studium in Yale für humanitäre Organisationen in Tschetschenien, Bosnien und Ruanda aktiv. Ab 2001 besuchte er für seinen Roman Schauplätze in der Ukraine und Rußland, las jahrelang historische Studien, befragte Zeitzeugen. Zweimal, so bemerken sämtliche Kommentatoren nun mit gespieltem Erstaunen, soll Littell die französische Staatsbürgerschaft von den Behörden verweigert worden sein. Der Autor gab an, es nun ein drittes Mal versuchen zu wollen.