von Johannes Boie
»Man muß in den Rückspiegel schauen, um die Spur zu wechseln.« Diese erkenntnisreiche Metapher stand am Anfang des Projektes »Weiße Flecken«, einer Initiative der Hamburger Stiftung »STEP 21«. Ein Jahr lang haben sich Schüler und Schülerinnen aus Polen und Deutschland, gefördert vom »Fonds Erinnerung und Zukunft«, in 15 Redaktionen zusammengefunden, um gemeinsam eine Zeitung zu erstellen. Die Schüler waren auf der Jagd nach »weißen Flecken«, die die Berichterstattung nach und während der NS-Zeit hinterlassen hat. Ausgangspunkt für die jungen Redakteure war dabei stets ihr eigenes, unmittelbares Umfeld. Im örtlichen Altersheim wurden Zeitzeugen befragt, in Stadtarchiven nach Unterlagen geforscht. Bei ihrer Arbeit sind die Jugendlichen auf erstaunlich große Lücken gestoßen, die sie mit viel Sorgfalt gefüllt haben – eine nachträgliche Korrektur der gleichgeschalteten NS-Presse. Aber auch ein Statement gegen Geschichtsrevisionismus und Unwissenheit.
Gemeinsam mit ihrem Team will Ann-Christin Heinig aus Dresden gegen »die reine Opferrolle Dresdens« angehen. »Denn bevor die Semper-Oper zerbombt wurde, haben die Dresdner persönlich die Semper-Synagoge angezündet.« Ihre Kollegen vom Team aus Seligenstadt sind ebenfalls auf braunen Dreck in der Stadtgeschichte gestoßen. Das Team mit dem passenden Namen »Fleckenlöser« hält nicht nur die Erinnerung an ein ehemals nahe der Hei-
matstadt gelegenes Arbeitslager wach, sondern kämpft in einem engagierten Kommentar auf ihrer Zeitungsseite gegen das Vergessen und Verdrängen der dunklen Geschichte der nächsten Umgebung. Daß die Stadtväter von Seligenstadt ausgerechnet jetzt das einzige Mahnmal für die im Lager Ermordeten entfernen möchten – »einen schlichten Stein« –, ärgert die jungen Schreiber zwar sehr, zeigt ihnen aber auch, wie wichtig ihre Arbeit ist.
Soviel soziales Interesse und Engagement von seiten der Jugendlichen gehört belohnt. Deswegen erschien der Bundespräsident am vergangenen Montag persönlich in der noblen Kommandantur Unter den Linden in Berlin, um die Zeitungsmacher zu loben. »Öffentliche Aufklärung«, sagte Horst Köhler, »ist die Grundlage der Demokratie.« Er danke deshalb den fleißigen Nachwuchsjournalisten für ihre Arbeit. In der Kommandantur präsentierten die Projektteilnehmer vor Pressevertretern und Prominenz ihre frisch gedruckte Zeitung. Außerdem stellte sich Bundespräsident Köhler den Fragen der angereisten Jugendlichen. »Ich hoffe, ihr habt bei eurer Arbeit gelernt, daß Freiheit ein unverzichtbares, aber auch immer bedrohtes Gut ist.« Von seiten der Schüler erging ein deutlicher Appell, an Schulen mehr Geschichtsunterricht und mehr Zeitzeugengespräche einzuplanen. »Die Leute wollen erzählen, man muß sie nur fragen! Schon in wenigen Jahren ist die Chance vertan«, warnte Anton Lißner aus Potsdam in Anbetracht der aussterbenden Generation. Sein Team wurde für besonders gute Texte mit dem »Sonderpreis Journalismus« ausgezeichnet.
Das erfolgreiche Projekt soll fortgesetzt werden. Initiatorin Sonja Lahnstein wies am Montag in ihrer Einführungsansprache darauf hin, wie viele Lücken immer noch zu füllen seien. »Bereits die Geschichte dieses Gebäudes wäre ein Ansatzpunkt für neue Teams.« In der Kommandantur wurde 1944 der Widerstandskämpfer Paul von Hase verhaftet. Seine Geschichte, sagte Lahnstein, sei in weiten Teilen noch immer unbekannt.
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