von Johannes Boie
Im Festsaal des Roten Rathauses gibt es feine Häppchen, Sekt und O-Saft. Eine blonde Frau sitzt davor und feiert nicht mit. Denn Ursula Vogel-Scheller hat ein Problem. Eben stand eine ältere Dame aus Boston vor ihr, und sagte, sie habe noch keine Theaterkarte für den nächsten Tag, für die Dreigroschenoper im Berliner Ensemble. »Extra aus Boston gekommen«, flüstert die Dame, die die Gästeliste betreut, in Vogels Richtung. »Bekommen wir hin«, sagt Vogel. Eigentlich gibt es keine Probleme für sie. Nur Herausforderungen. Das ist Vogel-Schellers Denkweise, sie hat es in den vergangenen Wochen oft genug bewiesen.
Die stressigen Wochen der Ursula Vogel-Scheller begannen mit einer Idee ihres Chefs, Staatssekretär André Schmitz. Zusammen mit dem Mendelssohn-Forscher Thomas Lackmann wollte er 60, 70 Nachfahren der berühmten Mendelssohn-Familie einladen. Aber dann meldeten sich immer mehr Nachfahren, und so stehen auf der Gästeliste an diesem Freitagabend 364 Teilnehmer. Es ist vor allem die neunte oder zehnte Generation nach Mendelssohn, die sich hier trifft. Anreisekosten und Logis tragen die Teilnehmer, der Senat spendiert die Verpflegung, alles Weitere übernehmen Sponsoren. Insgesamt kosten die vier Tage 48.000 Euro. Für jeden Teilnehmer gibt es eine CD-Rom mit dem Familienstammbaum, geführte Spaziergänge, den Theaterbesuch, Stadtrundfahrten und Museumsbesuche.
Während manche Nachfahren im Rathaus ergriffen der Rede von Walter Momper, dem Sprecher des Abgeordnetenhauses – »wir sind stolz und fühlen uns ver-
pflichtet!« – lauschen, begreifen andere nicht, womit sie »das alles« verdient haben sollen. »Heute leistet keiner aus der Familie etwas, was das rechtfertigen würde«, sagt Phillipp Feuerle aus München. Wie fast jeder Teilnehmer des Treffens weiß auch der Münchner Zimmermann ganz genau, von welchem Mendelssohn-Zweig er abstammt. Ganz am Rand des Saales steht Emily Leo aus Kalifornien. »Ver-
rückt«, sagt sie und staunt über ihre vielen Verwandten. »Das alles geht auf einen Mann und eine Frau zurück. Irgendwann läuft bestimmt die Erde über.« Noch verrückter seien nur die Journalisten, die zu einem Familientreffen gekommen seien. Einer fehlt an diesem Abend: Bürgermeister Klaus Wowereit kam trotz Ankündigung im Protokoll nicht.
Vor dem Rathaus ist es längst dunkel geworden, als drinnen noch immer gefeiert wird. Ein paar Polizisten brechen vom beleuchteten Rathausvorplatz auf in den von Bäumen bewachsenen Teil des Alexanderplatzes. Mit dem Treffen der Mendelssohn-Familie habe das nichts zu tun, versichert ein Polizist. »Dit is nur der janz normale Wahnsinn von Berlin-Mitte.«
Zwei Tage später bringen drei große BVG-Busse die Teilnehmer zum Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee. Hier sind Joseph Mendelssohn, der Sohn von Moses, seine Frau Henriette, sein Sohn Alexander und seine Schwiegertochter Marianne begraben. Ihre restaurierten Grabstätten werden heute wieder geweiht. Auf den engen Wegen der historischen Stätte herrscht Gedrängel. Ein Fernsehteam bahnt sich den Weg durch die Massen. Bundestagsvize Wolfgang Thierse taucht plötzlich auf, er hatte per Fax eine Einladung von André Schmitz bekommen.
Hier am Grabmal wird auch der ewige Streit in der Familie in deutliche Worte gefasst, und zwar von wissenschaftlicher Seite. Rabbiner Andreas Nachama, der – wie bei so vielen Anlässen – mit seiner ruhigen, konzentrierten Art eine feierliche, aber keine angespannte Atmosphäre schafft, weist orthodoxe Kritiker in die Schranken: Ein Teil der Familie sei zwar konvertiert, aber man wisse, dass ein großer Teil bis heute jüdisch sei.
Nachamas Sohn Alexander intoniert die Liturgie und wird von einem hell klingenden Damenensemble begleitet. Die Groß-Familie schweigt ergriffen. Dann spricht ein Mann vom Landesdenkmalamt, er redet von »nationaler und internationaler Verantwortung«, von »Instandsetzung« und von »lotto-gestützten Bauvorhaben«. Es ist eine wichtige Rede, die beweisen soll, wie sehr sich die Berliner Behörden bemühen, das Judentum der Stadt zu stützen. Aber ihre Wortwahl bricht die Atmosphäre der Feierlichkeit und ein Hauch von Unruhe ergreift die Nachfahren von Moses Mendelssohn. Sie sind fremd hier, und der eine oder andere weit Gereiste mag der Ansprache des Beamten, die im Protokoll als Grabrede vermerkt ist, nicht folgen können. Die Reporter beginnen leise, die Akkus ihrer Kameras und Aufnahmegeräte zu checken.
Rabbiner Nachama gelingt es mit wenigen Worten, die Stimmung wieder angemessen zu gestalten. »Ich würde sagen, dass wir jetzt diese Grabsteine weihen«, sagt er laut, und André Schmitz zieht die schwarzen Tücher von den neuen Steinen. Am Grab der Vorfahren, das alleine durch die Ausmaße beeindruckt, bleiben keine Fragen mehr offen. Auch nicht die, nach dem Sinn dieses gigantischen Familientreffens. Vier Meter und achtzig Zentimeter ist das Grab breit, 5,20 Meter lang. Es wird begrenzt von einer verputzten Grabwand, in die eine Marmorplatte eingelassen ist: »Mendelssohn«. Ein Wort genügt an dieser Stelle. Auf den neuen, rötlichen Grabsteinen mit der goldenen Gravur lassen sich die Lebensdaten der Bestatteten ablesen. Wer genau schaut, sieht noch den Glanz der Politur, mit der die Gravur auf Vordermann gebracht wurde.
Sobald die Zeremonie vorbei ist, schlägt die Stimmung um. Wolfgang Thierse scherzt mit Umstehenden. In der Nähe sei seine dritte Wohnung, ob er wohl eine Ausnahmegenehmigung bekäme, und auf dem jüdischen Friedhof seine »letzte« Wohnung bekommen könnte? André Schmitz weist Besuchern den Weg zu Max Liebermanns Ruhestätte. Die Mendelssohn-Nachfahren schießen Erinnerungsfotos mit den Grabsteinen ihrer Ahnen: links Joseph, rechts Henriette und in der Mitte ein strahlender Tourist.
Dann das Abschiedsessen im Haus der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße. Es gibt Wein aus Israel und ein großzügiges Büffet. Ursula Vogel-Scheller, Thomas Lackmann und André Schmitz werden laut beklatscht. Der Staatssekretär lädt die Mendelssohns zum nächsten Treffen ein. Dann aber müssten sie es selber organisieren – »wir helfen aber gerne mit«.
Seine Mitarbeiterin Ursula Vogel-Scheller ist erleichtert: Alles hat geklappt – auch die Theaterkarten haben zum Schluss dann doch gereicht. »Trotzdem sind wir noch lange nicht fertig«, sagt die Organisatorin. »Zwei Wochen nacharbeiten ist das Mindeste.« Sieht so aus, als freute sie sich darüber.