von Harald Loch
Ihre Welt war eigentlich längst untergegangen – aber der Tod von Lenka Reinerová, die am 27. Juni gestorben ist, macht noch einmal die Dimensionen des Verlustes deutlich. Wer sie deutsch sprechen hörte, vor allem, wenn sie mit bis zuletzt ungebrochener Stimme aus ihren Büchern las, konnte noch den Prager Charme und die tschechische Melodie dieser einstigen Lingua franca des südöstlichen Mitteleuropa erleben, dessen morbider Mittelpunkt Wien war.
Lenka Reinerová ist 92 Jahre alt geworden, hat fast bis zuletzt geschrieben, hatte dabei immer etwas zu sagen, warf ihr eigenes Leben in die Waagschale gegen das Vergessen, gegen die Inhumanität. Als Tochter jüdischer Eltern – ihre Mutter war deutscher und ihr Vater tschechischer Herkunft – verkörperte sie die drei Elemente böhmischer Zivilisation bis zuletzt. Die Nazis und später auch die Stalinisten konnten diese fruchtbare Sym- biose nicht ertragen. Im Holocaust verlor Lenka Reinerová ihre gesamte Familie.
Sie selbst konnte sich vor den Prag besetzenden Deutschen 1939 nach Frankreich retten. Als sie auch dort von den Nazis bedroht wurde, floh sie über Casa-blanca nach Mexiko, wo sie zusammen mit Egon Erwin Kisch, Anna Seghers und Franz carl Weiskopf an der Gestaltung eines sozialistischen Nachkriegseuropas arbeitete. »Wir fühlten uns vom Versuch einer sozialistischen Ordnung angezogen, die die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Taten umsetzen sollte. Beiseite stehen kam für uns in jenen erregten und erregenden Jahren überhaupt nicht in Frage.« Zu der Gruppe gehörte auch Otto Katz alias André Simone, einer der profiliertesten kommunistischen Journalisten seiner Zeit. Nach Prag zurückgekehrt, wurde er Opfer der antisemitischen Verfolgungswelle Stalins und 1952 hingerichtet. Auch Lenka Reinerová geriet in die Mühlen der Säuberung. 15 Monate lang saß sie im Gefängnis. Später wurde sie rehabilitiert, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wieder mit Schreibverbot belegt. Ihre Bücher durften in ihrer Heimat nicht erscheinen. Aber der Ost-Berliner Aufbau-Verlag veröffentlichte die im Original ja auf Deutsch geschriebenen Arbeiten. Auf Tschechisch ging das erst nach dem Ende des Realsozialismus 1989.
An Weggehen hat Lenka Reinerová trotz all dieser Widrigkeiten nie gedacht. Sie liebte ihr Prag, wo sie am 17. Mai 1916 geboren war, »dieses Gemisch aus Wirklichem und wirklich Unwirklichem«. Als ich das letzte Mal mit ihr sprach, zog sie eine Traditionslinie »vom sagenhaften Golem des Rabbi Löw über Franz Kafka und den braven Soldaten Schwejk bis zu dem Dissidenten und Autor absurder Dramen Václav Havel, der eines Tages auf der Burg der böhmischen Kaiser und Könige
Einzug hielt.« Das Närrische an der Stadt machte für die letzte auf Deutsch schreibende Tschechin den eigentlichen Charme Prags aus. Ist es denn nicht wirklich närrisch, fragte sie verschmitzt, dass das berühmte Café Arco, in dem Kafka und viele andere verkehrten, heute eine Polizeikantine ist? Dass im Wohnhaus des rasenden Reporters Egon Erwin Kisch, mit dem sie in Prag und im Exil zusammenhielt, heute ein »Sex-Machine-Museum« steht und in einer alten Prager Synagoge das geistliche Hauptquartier der Korean Church untergebracht ist?
Anlass unseres Gesprächs war das letzte Herzensanliegen Lenka Reinerovás: Sie wollte zusammen mit vielen Freunden, zu denen auch Václav Havel gehört, ihren langjährigen Traum verwirklichen: ein Literaturhaus, in dem tschechische und deutsche Autoren miteinander schreiben,
lesen und leben könnten.
Am 27. Juni ist Lenka Reinerová, die Prager Ehrenbürgerin, gestorben. Das geplante Literaturhaus, für das sie trotz Alters und Krankheit bis zuletzt nicht nur moralische, sondern auch finanzielle Unterstützung einwarb, sollte ihr Denkmal werden – nicht als Museum, sondern nur als Stätte lebendigen Erinnerns.