Hoschana Rabba

Die letzte Chance

Hoschana Rabba ist der letzte Tag des Laubhüttenfestes. An diesem Tag beenden wir mehrere Gebote, die Mizwot dieses Festes. Dazu gehörte, die sieben Festtage über in der Laubhütte zu sitzen und während der täglichen Gebete die Arbat HaMinim – den Strauß aus den vier Arten, nämlich Palmwedel, Zweige von Myrten und Bachweiden sowie einer Zitronenart, dem Etrog – zu schwingen. Zur Zeit des Tempels in Jerusalem kam damals noch die Sitte des Wasserschöpfens aus dem Schiloa-Teich hinzu.
Das hebräische Wort Hoschana bedeutet »rette uns«, und diese Bitte wird auch mehrere Male – Rabba bedeutet viel – während der G’ttesdienste des Festes gesagt.

Teschuwa Im jüdische Bewusstsein ist Hoschana Rabba der letzte Tag der Jamim Noraim, der ernsten Tage. Damit endet die Periode der Hohen Feiertage, von Rosch Haschana über Jom Kippur mit dem an-
schließenden Sukkot-Fest. Zwar feiern wir Rosch Haschana auch als Neujahrsfest, aber man kann das jüdische Neujahr nicht mit dem weltlichen Jahreswechsel vergleichen. Das jüdische Neujahr wird auch Tag des Gerichtes genannt, da wir an Rosch Haschana unsere Abrechnung dem Herrn der Welt übergeben, um an Jom Kippur dann das gerechte Urteil zu bekommen. Deshalb versucht jeder Jude, in diesem Zeitraum Teschuwa (die Umkehr zu G’tt) zu vollziehen. Für diejenigen, die das in diesen Tagen nicht geschafft haben, stellt der Tag von Hoschana Rabba eine letzte Chance dar. Deshalb wünschen wir einander an Hoschana Rabba auch »eine gute Quittung« und das bedeutet, dass wir in das Buch des Lebens eingetragen werden mögen.
Man stellt sich nun die Frage, warum Hoschana Rabba am Ende dieser ernsten Tage steht? Unsere Rabbiner geben uns in der Literatur die Erklärung: Dieser Tag war ein persönliches Geschenk von G’tt an den Patriarchen Abraham, damit er ihn seinen Nachkommen weiter überliefere: »Und G’tt sagte zu Abraham: ›Ich bin einzig und du bist einzig. Ich werde deinen Kindern ei-
nen Tag geben, wo sie ihre Sünden bedenken können. Wenn sie an Rosch Haschana gesühnt haben, dann ist es gut. Wenn nicht, dann muss dies an Jom Kippur nachgeholt werden. Und wenn sie es auch an diesem Tag nicht geschafft haben, dann schenk ich euch Hoschana Rabba als letzte Möglichkeit.«
Abraham Was ist nun aber die tiefere Verbindung zwischen Abraham und diesem Tag? Abraham stand in der 21. Generation seit der Erschaffung der Welt – zehn Generationen waren es von Adam bis Noach, zehn weitere von Noach bis Abraham. Erst Abraham in der 21. Generation erkannte seinen wahren G’tt, zerstörte die Götzenbilder und verbreitete den Glauben an einen einzigen G’tt – der Monotheismus war entstanden.
Und weil Abraham Kind der 21. Generation war, gab G’tt seinen Kindern den 21. Tag des neuen Jahres als Datum von Ho-
schana Rabba, als letzte Möglichkeit, ein neues Kapitel im Leben, im neuen Jahr zu beginnen. Es ist gleichzeitig der 21. Tag des jüdischen Monats Tischrei, der in der Tora als siebter Monat gezählt wird.
Zu diesem Festtag gibt es einige Bräuche, die ihn begleiten. In der Nacht vor Ho-
schana Rabba sprechen wir eine Reihe von Gebeten, die als Tikkun – als Verbesserung und Korrektur unserer Gesinnung – be-zeichnet werden. In dieser Nacht des Lernens lesen wir ausgewählte Stücke aus der Tora. Auch tragen wir einen weißen Kittel – die Farbe soll die Reinheit symbolisieren – und wir beten im gleichen Stil wie an Rosch Hoschana und Jom Kippur.

Hakafot Ein weiterer besonderer Brauch an diesem Festtag sind die Hakafot. Diese Prozessionen mit den Arba Minim um das Lesepult der Synagoge herum werden wie in der Zeit des Tempels vollzogen. Dabei werden verschiedene Gebete gesprochen, die immer wieder mit dem Wort »Hoschana«, rette uns, beginnen. Nach diesen Prozessionen schlagen wir mit einem Bund von fünf Bachweidenzweigen – Arawa – drei- bis fünfmal auf den Boden, so heftig, dass die Blätter abfallen. Diese Sitte stammt von den Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi. Da der Brauch keinen direkten Ursprung aus der Tora hat, gibt es auch keinen dazugehörigen Segensspruch.
Interessant ist es zu erfahren, warum gerade die Bachweide für diesen Brauch gewählt worden ist. Die jüdischen Mystiker erklären dies so: Jeder soll an diesem Tag eine letzte Möglichkeit haben, ein gu-
tes Urteil für das neue Jahr zu erhalten. So symbolisieren die Blätter der Bachweiden zweierlei: Zum einen haben Weiden keinen besonderen Geruch und keinen besonderen Geschmack, stellen so das einfache Volk dar, das keine Torakenntnisse hat und die Gebote nicht erfüllt. Zum anderen er-
innert die Form der Weidenblätter an die Form von Mund und Lippen.
Mit diesen Bachweidenzweigen in der Hand kommen wir nun zu G’tt und zeigen ihm, dass wir unter uns Menschen ohne Torakenntnisse haben, die auch nicht die religiösen Gesetze einhalten. Diese Menschen ähneln zwar den schlichten Bachweiden, aber sie haben eine positive Eigenschaft: Sie haben Mund und Lippen, um zu G’tt zu beten. Sie sind bereit, sich zu beugen, zu leiden und – wie die Weidenzweige – bis auf den Boden geschlagen zu werden, vor G’tt, damit er ihnen verzeihen und sie in das Buch des Lebens eintragen möge.
Das Volk ähnelt dem Hirten, der ohne Kenntnisse nur aus purem Zufall an Rosch Haschana oder Jom Kippur in die Synagoge gekommen ist, der nicht beten konnte, ja im Leben noch keinen Buchstaben gesehen hatte. Und der noch nicht einmal verstand, vor G’tt richtig zu weinen. Aber als dieser Hirte zu pfeifen begann, war dieser Ton allein wie ein Schrei zum Himmel, wie ein Gebet, so dass die Tore des Himmels sich auch für ihn mit Erbarmen öffneten.

Kultur

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