Die Geschichte ist mehr als unerfreulich. In seinem letzten Buch Un Juif pour l’exemple (Ein Jude als Exempel) beschreibt der französischsprachige Schweizer Schriftsteller Jacques Chessex auf 96 Seiten kurz und krass einen Mord an einem jüdischen Viehhändler. Das Verbrechen hat sich tatsächlich in seiner Geburtsstadt Payerne, einem für Schweinezucht bekannten Ort in der Westschweiz, abgespielt: Chessex war acht Jahre alt, als mit den Nazis sympathisierende Schweizer den Berner Viehhändler Arthur Bloch am 16. April 1942 in einen Stall lockten, erschlugen und zerstückelten. Die Leichenteile warfen sie in den Neuenburgersee. Vor Gericht bekannten die Täter, sie wollten an Bloch ein Exempel statuieren.
Der Judenmord in Payerne hat Jacques Chessex, der im Oktober 2009 starb, immer wieder beschäftigt. Der pro-nazistische Pfarrer Philippe Lugrin, »geistiger Vater« der Mordbande, tauchte bereits in seinem 1973 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman L’Ogre (Der Kinderfresser) auf. Chessex kannte die Angehörigen der Mörder: Mit der ältesten Tochter von Ferdinand Ischi, dem »Möchtegern-Gauleiter« von Payerne, ging er zur Schule.
Chessex erzählt die Geschichte in einem Stil, der zwischen Roman, Anklage, Geschichtsschreibung und erklärendem Journalismus wechselt. Von archaischer Schönheit sind die Landschaftsbeschreibungen der Region La Broye, dem Kanton Waadt. Heftig dagegen die Schilderung der von der Wirtschaftskrise gedemütigten Schweizer Kleinbürger, die den Juden die Schuld geben. Chessex spricht von »verschwarteten Gehirnen protestantischer Schweinefresser«. Es verwundert kaum, dass das Buch – in Frankreich und der Schweiz ein großer Erfolg – in Payerne nicht gut ankam. »Ich denke an die Nachfahren der Schuldigen, die oft zitiert werden. Sie sehen ein weiteres Mal dieses Drama auftauchen, für das sie nicht verantwortlich sind«, sagte der Stadtpräsident von Payerne, Michel Roulin.
Was Familienangehörige wohl auch nicht gerne lesen: Chessex versucht, sich in die Psyche von Ferdinand Ischi zu versetzen, gibt ihm sadistische Fantasien ein. Er lässt ihn etwa eine junge Frau auspeitschen und dabei Sprüche wie »Dein jüdisches Blut, Annah, Sauenblut« äußern. Überzogen im Pathos und unangemessen im Vergleich wirken Passagen wie: »Arthur Bloch, ein schwarzer Riese unter dem Schnee. ... Unverjährbar durch die Schmähung, die Verachtung, die Verzweiflung, die aus den Hügeln von Auschwitz und Payerne aufsteigt, durch die Nazischande von Treblinka und den Schweinemarktflecken der Broye.«
Deutlich wird aber: Der Mord hat Chessex sein Leben lang belastet. Er spricht von Umständen, »die meine Erinnerung die ganze Zeit hindurch vergiftet haben und mir seit damals ein Schuldgefühl einflößten, das sich jeder Vernunft entzieht«. Bis zu seinem Tod setzte sich Chessex dafür ein, den Hauptplatz in Payerne nach Arthur Bloch zu benennen – bisher vergebens.
Ein Jude als Exempel ist trotz kleinerer Ärgernisse lesenswert – und macht Lust, diesen Autor zu entdecken. »Gott weiß warum«, ließ die Witwe von Arthur Bloch auf den Grabstein ihres Mannes schreiben. Es komme vor, schreibt Chessex, »dass der alte Schriftsteller, der diese Geschichte als kleiner Junge in nächster Umgebung miterlebt hat, mitten in der Nacht geplagt und verletzt aufwacht. Dann glaubt er, jenes Kind zu sein, das er damals war und das den Seinen bohrende Fragen stellte. Es fragte, wo der Mann sei, den man ganz in der Nähe ermordet und zerstückelt habe. Es fragte, ob er wiederkomme. Und wie man ihn empfangen werde.« Ayala Goldmann
Jacques Chessex: Ein Jude als Exempel. Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Nagel & Kimche, München 2010, 96 S., 12,90 €