Von Thomas Meyer
Am 6. März 2007 wurde bei einer Feierstunde im Kaisersaal des Frankfurter Römers der nach Marcel Reich-Ranicki benannte Lehrstuhl für deutsche Literatur in Tel Aviv offiziell gestiftet. Der Züricher Germanist Peter von Matt sprach in seinem Festvortrag über »Die Kunst, die Macht und die Kritik«, Robert Schumanns »Liederkreis op. 24« nach Gedichten von Heinrich Heine erklang. Es war, wie alle Teilnehmer versicherten, eine bewegende Zeremonie.
Danach hörte man von dem Projekt nichts mehr. Bis, fast genau ein Jahr nach der Feierstunde, am 5. März die Stuttgarter Zeitung in einem Bericht den ehrenamtlichen Vertreter des Lehrstuhls, den Historiker Moshe Zuckermann, zitierte. Der exzellente Kenner deutscher, israelischer und deutsch-israelischer Befindlichkeiten klang darin besorgt: Der Lehrstuhl, der »einen hervorragenden Beitrag zur Vermittlung der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte in Israel leisten, geistigen Austausch und Verständigung zwischen den beiden Völkern fördern« soll, wie es bei der Einweihung geheißen hatte, stehe vor einer ungewissen Zukunft. Man befinde sich in einer »Wüste«, die Zahl der Studierenden sei »defizitär«, Veranstaltungen fänden nicht statt. Auch finanziell sehe es nicht gut aus: Spendenaufrufe unter prominenter Beteiligung hatten nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Verfasst hatte den Bericht Margret Greiner, die die Situation der israelischen Universitäten und insbesondere der »German Departments« gut kennt. Sie selbst lehrte in Jerusalem von 2000 bis 2002 und besucht das Land regelmäßig. Ihr Mann, der Germanist Bernhard Greiner, war zu der Zeit Walter-Benjamin-Professor für deutsche Literatur ebenfalls in Jerusalem.
Ein hoch, vielleicht zu hoch ambitioniertes Projekt hat Probleme. Es sind hoffentlich nur Anfangsschwierigkeiten. So mancher Leser der Stuttgarter Zeitung und anderer Blätter – dpa machte aus dem Artikel eine bundesweite Meldung – wird den Bericht jedoch in einen weiteren Kontext gestellt haben: als neuerliches Indiz für den vielbeschworenen Untergang der deutsch-jüdischen Kultur in Israel. Gern wird in deutschen Feuilletons vom Aussterben der Jeckes berichtet, von der Schließung der letzten deutschen Buchhandlungen und vom Ende traditioneller Literatencafés, vom tapferen, wenn auch aussichtslosen Überlebenskampf deutschsprachiger Zeitungen.
Die Realität sieht freilich anders aus. Die Deutschkurse der Goethe-Institute sind gut besucht, die Minerva-Institute für deutsch-jüdische Geschichte in Tel Aviv und Jerusalem arbeiten mit großem Erfolg. Exzellente Stipendienprogramme ermöglichen seit Jahren einen regen Wissenschaftleraustausch in allen Fachbe- reichen, auch in den Geisteswissenschaften. Dutzendweise werden jedes Jahr Treffen von Schriftstellern aus allen Genres organisiert, von der Hochliteratur bis zum Comic.
Gegen die These vom langsamen Tod des Deutschen in der israelischen Kultur spricht nebenbei auch die Tatsache, dass die Preise für deutsche Bücher in israelischen Antiquariaten gerade in den letzten Jahren steil nach oben geschnellt sind. Und das berühmte Jerusalemer Café Atara, in dem einst Else Lasker-Schüler und Arnold Zweig verkehrten, hat auch längst wieder aufgemacht.
Die Vorstellung, dass in Israel kein Interesse an Deutschland besteht, dass deutsche Geistes- und Realgeschichte jenseits der Schoa keine Themen sind, ist schlicht und einfach falsch. Jeder, der das Land aus mehr als nur Zeitungsberichten kennt, weiß das. Die Nachfrage nach deutscher Kultur ist im jüdischen Staat groß. Sie wird allerdings von deutscher Seite nicht immer optimal befriedigt, um es höflich auszudrücken. Ein besonders eklatantes Beispiel dafür erlebte der Autor dieses Textes vergangenen Juni bei einer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) organisierten deutsch-israelisch-amerikanischen Wissenschaftlerkonferenz in Jerusalem. Einer guten Tradition folgend, sollte ein Teil der Konferenz im Goethe-Institut stattfinden. Vorträge über Richard Wagner, Thomas Mann und Franz Kafka waren angekündigt. Im Publikum saßen zahlreiche alte, aber muntere Jeckes, die sich auf spannende Stunden über »ihre« Musik und Literatur freuten. Sie wurden bitter enttäuscht. Nicht nur, dass die Referenten über Gebühr zu spät kamen; die Vorträge – wohlgemerkt deutscher Wissenschaftler vor meist muttersprachlich deutschem Publikum – wurden auf Englisch gehalten. Die beiden Ordinarien sahen sich nicht einmal in der Lage, auf Deutsch zu extemporieren. Hinzu kam, dass die Referate alles andere als exklusive neue Einsichten boten, sondern reichlich alte Hüte. Um der Peinlichkeit die Krone aufzusetzen, wurden dann noch über die Köpfe der Anwesenden hinweg Berliner Universitätsinterna diskutiert und am Ende statt über Kafka über »Phallozentrismus« geredet. Freundlich lächelnd schieden die Akademiker zufrieden, die Besucher eher befremdet.
Gewiss, das mag ein extremer Fall gewesen sein, ein Ausreißer. Aber im British Council, im Institut Français oder in den Institutionen der U.S. Information Agency wäre so etwa selbst an schlechten Tagen schwer vorstellbar. Dort geht man mit seiner »Kundschaft« respektvoller um.
Deutsche Sprache, Wissenschaft und Kultur haben in Israel viele Freunde – nicht nur unter alten Jeckes, sondern auch bei jungen Sabres. Diese Freundschaft zu erhalten und zu pflegen, verlangt freilich mehr als Sonntagsreden, Renommierprojekte und Feierstunden im Römer. Es braucht dazu praktische Konzepte, Professionalität, Mut und nicht zuletzt auch Geld. Sonst könnte der oft beschworene Untergang der deutschen Kultur in Israel irgendwann einmal zur selffulfilling prophecy werden. An den Israelis würde es dann aber nicht gelegen haben.