von Georg Heuberger
Das Ganze dauerte kaum fünf Minuten. Dann waren im New Yorker Auktionshaus von Christie’s aus einem Anfangsgebot von 12 Millionen US-Dollar 38 Millionen geworden, und der Kunstsammler Ronald Lauder hatte den Zuschlag für Ernst Ludwig Kirchners Gemälde »Berliner Straßenszene« erhalten. Künftig soll das Bild in der Neuen Galerie für deutsche und österreichische Kunst an der Fifth Avenue in Manhattan zu sehen sein. Das 1913 entstandene Hauptwerk des deutschen Expressionismus war im Sommer vom Berliner Senat an die Enkelin des ursprünglichen Besitzers, des bekannten jüdischen Sammlers Alfred Hess, restituiert worden.
Werden und Wirken des Expressionismus in Deutschland sind aufs Engste mit den Aktivitäten jüdischer Sammler, Galeristen, Museumsdirektoren, Kritiker und Wissenschaftler verbunden. Die Namen Paul Cassirer, Carl Einstein, die Sammler Ludwig und Rosy Fischer und eben auch Alfred Hess geben davon neben vielen anderen ein beredtes Zeugnis. Das Engagement für diese nicht nur von den Nazis als »entartet« und »zersetzend« verfemte Kunstrichtung wurde vielen jüdischen Sammlern, Experten und Kunstliebhabern zum Verhängnis, nachdem sie als zusätzlicher Vorwand für die Verfolgung im »Dritten Reich« herangezogen wurde.
Die Medien überschlagen sich seit Wochen mit immer neuen Meldungen, Interviews und Stellungnahmen von Politikern und Experten zur Rückerstattung des Kirchner-Gemäldes; Aktionismus, teilweise unter Androhung strafrechtlicher Schritte, bestimmt die Schlagzeilen. In der öffentlichen Berichterstattung herrscht dabei der unsachliche wie gefährliche Tenor vor, als drohe den deutschen Kunstsammlungen der öffentlichen Hand die »Ausplünderung« durch die Erben der früheren jüdischen Eigentümer. Aus Sicht der Claims Conference ist die Restitution des Kirchner-Gemäldes zweifelsfrei zu Recht und im Einklang mit den 1998 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Wa- shingtoner Grundsätzen erfolgt. Hanns Hess, der Sohn des ursprünglichen Besitzers, verlor seine Stellung im Ullstein Verlag und mußte im Frühjahr 1933 aus Nazi-Deutschland fliehen. Seine Mutter Thekla Hess wurde im Zuge der »Arisierung« der Schuhfabrik Hess 1936 von der Gestapo massiv unter Druck gesetzt, die gesamte Sammlung aus der Schweiz nach Deutschland zurückzuführen. Die verfolgungsbedingte Emigration, der Zwangsverkauf von Bildern, die Repressalien und die Bedrohung naher Familienangehöriger, die noch nicht emigriert waren – all dies sind Tatbestände, die nicht zu bezweifeln sind.
Umso empörender ist es, daß im Zuge der Restitution ein Streit vom Zaun gebrochen wird, der die Washingtoner Grundsätze zu diskreditieren versucht. Kontinuierlich werden diese Grundsätze als »nicht bin- dend« charakterisiert. Dies mag in einem formaljuristischen Sinne korrekt sein; es handelt sich jedoch um eine von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Selbstverpflichtung, die gerade vor dem historischen Hintergrund politisch und nicht zuletzt moralisch zutiefst verbindlich ist. Diese Selbstverpflichtung ist von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden mehrfach bekräftigt worden.
Umso unverständlicher ist es daher, wenn heute laut nach Einführung von Ausschluß- oder Haltefristen und anderen, noch weiterreichenden Maßnahmen zum »Schutz nationalen Kulturguts« gerufen wird. Man fordert, die sogenannte Handreichung zu überarbeiten, die eine Anleitung gibt für die Lösung von Folgen des nationalsozialistischen Kunstraubes. Besonders beschämend ist die Forderung, die Regelungen des Rückerstattungsrechts für die Re- stitution von Kunstgegenständen umzukehren. Bereits die alliierten Militärregierungen hatten bei den ersten Restitutionsgesetzen erkannt, daß die Ansprüche der Berechtigten ins Leere laufen und die angestrebte Wiedergutmachung insgesamt scheitern würde, wenn man die gesamte Beweislast den Verfolgten aufbürden wollte. Aus gutem Grund: Die Opfer hatten alles – Familie und Besitz – verloren und waren zumeist nicht in der Lage, entsprechende Nachweisdokumente vorzulegen. Hinter den seit sechs Jahrzehnten bestehenden rechtlichen Mindeststandard darf heute keinesfalls zurückgegangen werden.
Die einzige Möglichkeit ist es, Transparenz in den zweifelhaften Sammlungsbeständen der öffentlichen Kunstsammlungen zu schaffen. Provenienzrecherche lau- tet hier das Schlagwort. Ohne die umfassende Erschließung der fraglichen Bestände und die anschließende Veröffentlichung haben Geschädigte keine andere Wahl, als sich an spezialisierte Anwaltskanzleien und Auktionshäuser zu wenden oder deren Avancen anzunehmen, um wieder in den Besitz des geraubten Kunstguts zu gelangen. Die bisherigen Recherchen einzelner Museen erfassen oft nur Teile des fraglichen Sammlungsbestandes. Es ist Aufgabe der Politik, hier auch finanziell Abhilfe zu schaffen.
Der Autor ist der Repräsentant der Jewish Claims Conference in Deutschland und war Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main.