von Sigrid Brinkmann
Zehn Wunder brauchte es, um die Schoa zu überleben. Neun, konstatiert Samuel Bak nüchtern, hätten nicht gereicht. Er war elf, als die Rote Armee 1944 die deutschen Besatzer aus Wilna vertrieb und er mit seiner Mutter das Versteck bei Nonnen des Benediktinerordens verlassen konnte. An jenem 13. Juli, erinnert er sich, sah man nur vereinzelt Menschen auf den Straßen. Die Einwohner fürchteten herumliegende Minen und Schüsse von Partisanen. Samuel zählte die Orden an den Uniformen der am Straßenrand liegenden Soldaten. Es prägte sich die Farbe des Flusses ein, in dem Fische und Leichen schwammen.
Der Junge wusste noch nicht, dass sein Vater Jonas zehn Tage zuvor von Deutschen erschossen worden war. Seine Großväter Chaim und Chone hatten schon 1941 zu den ersten Opfern der Massaker von Ponary gehört. In dem Waldgebiet, einem ehemals beliebten Ausflugsziel, hatte die SS schätzungsweise hunderttausend Menschen erschossen und verscharrt. Baks Großmütter Schifra und Rachel starben an Jom Kippur Hand in Hand im Kugelhagel.
Samuel Baks Mutter hatte nach der Befreiung nur ein Ziel: Wilna so schnell wie möglich zu verlassen und den seit 1938 in Palästina lebenden Bruder zu finden. Der Weg führte über Lodz, Berlin und Landsberg am Lech, wo Mutter und Sohn drei Jahre lang in einem DP-Camp warteten. 1948 in Israel angekommen, studierte Bak an der Bezalel-Akademie, entwarf Bühnenbilder und Kostüme für das Habima-Theater. 1956 bekam er einen Studienplatz an der berühmten Ecole des Beaux-Arts in Paris. Später lebte und arbeitete er in Italien, Frankreich und in der Schweiz, bevor er 1993 mit seiner Frau Josée, einer Psychoanalytikerin, in die Nähe von Boston übersiedelte. Nach Europa kommt er weiterhin regelmäßig zu Ausstellungen seiner Bilder in Museen, Galerien und Synagogen.
Seine allererste Ausstellung hatte Samuel Bak 1943 im Wilnaer Ghetto. Die jiddischen Dichter Avrom Sutzkever und Schmerke Kaszerginski überreichten danach dem damals neunjährigen Jungen einen schweren, in Leder gebundenen Band, mit der Aufforderung, darin zu zeichnen und zu malen, was immer ihm einfiel. Bak hat diese Chronik später auf der Flucht zurücklassen müssen. Das Buch liegt heute in einer Glasvitrine des Litauischen Nationalmuseums. 2001 hat Bak den Band mit seinen kindlichen Skizzen zum ersten Mal nach 56 Jahren wiedergesehen.
Einige Jahre davor hatte Samuel Bak schon einmal eine Kindheitserinnerung wiedergefunden. Im DP-Lager Landsberg hatte 1947 ein US-Wochenschauteam den damals 14-Jährigen beim Malen gefilmt. Diese Aufnahme entdeckte Bak Ende der neunziger Jahre zufällig beim Besuch des Holocaustmuseums in Washington D.C.
Als er die alte Wochenschau wiedersah, schrieb Bak gerade an den letzten Seiten sener Biografie. In Worte gemalt. Bildnis einer verlorenen Zeit erschien in den USA 2002 und ist auf Deutsch dieses Jahr bei Beltz herausgekommen. Fünf Jahre lang hat der Maler an dem Buch gearbeitet, seine »inneren Archive« geöffnet, um seinen künstlerischen Werdegang zu reflektieren und Angehörigen und Freunden ein Denkmal zu setzen. War es einfacher für ihn, den verschlungenen Pfaden der Erinnerung in Amerika, weitab von Europa, zu folgen, frage ich ihn. Ja, antwortet Bak.
In die USA sei er 1993 fast zufällig gekommen, berichtet Bak. Aus Spaß habe er sich bei einem Aufenthalt in Boston Häuser angeschaut – und war plötzlich Besitzer von einem. Dabei besaß er noch nicht einmal eine Greencard. Die hat er inzwischen längst. Aber zu Hause in den USA fühlt sich der Maler nicht. Es fällt ihm schwer, sagt er, die politischen Verhältnisse zu akzeptieren. Wenn Bak von dem Gefühl der Fremdheit spricht, das inzwischen ge- wonnene Freunde teilen, ahnt man, dass ein Sprung zurück über den Atlantik für ihn nicht ausgeschlossen ist. Seine drei Töchter und die Enkelkinder leben in Paris. Bak bezeichnet sich als Menschen mit »transportablen Wurzeln«, die in einen Koffer passen. Das Leben hat von ihm verlangt, sieben Sprachen zu lernen und sich in acht Ländern niederzulassen.
1948 wurde sein Familienname von einem Namensforscher aufgeschlüsselt. Samuel erfuhr, dass Bak eine Abkürzung von »bnei k’doshim« ist, zu Deutsch »Kinder der Märtyrer«. Er folgerte daraus, dass die Baks über Generationen hinweg das dunkle Gedächtnis der namenlosen Opfer ukrainischer Pogrome wach hielten. Samuel Bak deutete das als Auftrag: Seine Gemälde sollten ein persönliches Zeugnis des Überlebenstraumas sein. Und so sieht man auf seinen oft im Stil der alten Meister gemalten Bildern urbane Flächen, die aussehen, als wären sie aus Bauklötzen geschichtet; Prothesen tragende Gestalten ringen um Halt; gefolterte Engel blicken ins Leere; Schachfiguren, für die es keine Spielregeln gibt, behaupten sich auf einem Feld; Rauch ausstoßende Schornsteine ragen in den Himmel und überdimensionierte, planetengleich schwebende Früchte durchqueren den Raum. Bak malt Metaphern einer Welt, die sich nicht erklären lässt. Seine Werke wurzeln in dem, was er »eine Meditation über die jüdischen Erfahrungen« des vergangenen Jahrhunderts nennt. Malen ist für ihn »praktiziertes Ritual«, das ihm geholfen hat, sein erschüttertes Leben zu ordnen.