von Rabbiner Gershon Winkler
Im Midrasch Kohelet Rabbah (7,32) ist folgendes zu lesen: »Als Kadosch Baruch Hu den Urmenschen schaffen wollte, beriet er sich mit den barmherzigen Engeln und sagte zu ihnen: ›Sollen wir den Menschen machen?‹ Sie sagten: ›Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?‹ (Psalmen 8,5). Er antwortete: ›Der Mensch, den ich schaffen möchte, seine Weisheit ist höher als eure.‹ Was hat der Schöpfer danach gemacht? Er sammelte alle zahmen und wild lebenden Tiere und Vögel und ließ sie vor den Engeln stehen und sagte: ›Nun gebt ihnen Namen.‹ Die Engel standen da und wußten nicht, wie sie sie nennen sollten. Sie brachten alle Geschöpfe vor den Urmenschen und sagten: ›Was sind die Namen von diesen?‹ Sagte der Mensch: ›Herr aller Welten! Es ist passend, diesen da einen Ochsen zu nennen, und für diesen ist es passend, ihn Löwe zu nennen; dieses da heißt Pferd und jenes Kamel, und diesen nenne ich Adler‹, und so ging es mit allen anderen Tieren weiter. Sagte der Schöpfer: ›Und was ist mit dir? Wie sollst du heißen?‹ Sagte der Mensch: ›Erdwesen (Adam), weil ich aus Erde geschaffen wurde (Adama).‹«
Die Vorstellung im Judentum, daß der Mensch aus Erde geformt wurde, ist mehr als eine simple Metapher oder farbige Homilie. Wie ein roter Faden zieht sich das Thema durch die biblische, legalistische, midraschische und kabbalistische Richtung der jüdischen spirituellen Lehre. Im Ersten Buch Moses (2,7) sagt uns der Erzähler der Schöpfungsgeschichte, daß der Schöpfer den Menschen aus Erde formte. Im Midrasch lehrte Rabbiner Shimon ben Elazar im zweiten Jahrhundert, der Mensch sei nicht nur aus einem Klumpen Ackerboden, sondern aus Erde, die aus allen vier Himmelsrichtungen gesammelt wurde, geschaffen worden (Midrasch Bereishis Rabbah 8,1). In der jüdischen mystischen Tradition schildert das Buch des Sohar, wie der Schöpfer den Menschen aus der Erde formte, die von dem Ort des heiligen Raumes des Heiligsten alles Heiligen auf dem Berg Moria in Jerusalem stammt, und daß dann jeder der vier Winde der vier Himmelsrichtungen gerufen wurde, um dem Urmenschen seine jeweils besondere Kraft und Eigenschaft einzuhauchen (Sohar, Band 1, der Foliant 130b und Band 2, der Foliant 23b).
Diese und andere Quellen deuten den Menschen als lebendigen Mikrokosmos des gesamten Planeten Erde, seine Seele durchdrungen von den Kräften der vier Winde. Rabbiner Shimon ben Lakish schreibt im zweiten Jahrhundert: »Alles, was der Heilige Herr im Menschen schuf, wurde auch in der Erde geschaffen, damit es dem Menschen ähnelt« (Kohelet Rabbah 1,9).
Im zwölften Jahrhundert lehrte Rabbiner Mosche ibn Maimon am Anfang seiner Kodifizierung des jüdischen Gesetzes und Brauchs, daß die Erde, die Planeten, die Sterne, Sonnen und Monde, alles, was wir leblos oder mineralisch nennen, genauso von der göttlichen Seele durchdrungen sind wie alle anderen Lebewesen (Mischna Torah, Hil’chot Jesodei Hatorah 3,9). Seine Lehre ist eher eine Erinnerungsstütze für den Leser, als die Einführung in etwas für die jüdische Tradition Neues: »Lobt ihn, Sonne und Mond, lobt ihn, all ihr leuchtenden Sterne, lobt ihn, alle Himmel und ihr Wasser über dem Himmel! ... Lobet den Herrn, ihr auf der Erde, ihr Seeungeheuer und all ihr Tiefen, Feuer und Hagel, Schnee und Nebel, du Sturmwind, der sein Wort vollzieht, ihr Berge und all ihr Hügel, ihr Fruchtbäume und alle Zedern, ihr wilden Tierre und alles Vieh, Kriechtiere und gefiederte Vögel, ihr Könige und alle Völker, ihr Fürsten und alle Richter auf Erden ... Loben sollen sie den Namen des Herrn ...« (Psalmen 148, 3-4 und 7,12). »Der Israelit unterscheidet nicht zwischen einer lebendigen und einer leblosen Natur. Ein Stein ist nicht nur ein Klumpen Materie. Er ist wie alle lebendigen Dinge ein Organismus mit den besonderen Kräften einer bestimmten geheimnisvollen Fähigkeit, wovon nur derjenige Kenntnis hat, der damit vertraut ist – die Erde ist etwas Lebendiges«, schrieb Johannes Pederson in seinem Buch Israel: Its Life and Culture. Daher ist die Erde nicht bloß etwas Heiliges, das außerhalb und getrennt vom Menschlichen besteht und deren Heiligkeit sich der Mensch in bestimmten Zeitabständen durch Rituale und Zeremonien verbindet. Vielmehr ist die Erde ein integraler Bestandteil der menschlichen Beschaffenheit. Ja, die Erde und das Menschliche sind Synonyme. Sie sind ein und dasselbe. Sie wurden nach dem jeweils anderen benannt. Was wir der Erde antun, tun wir den Menschen an, und was wir dem Menschen antun, tun wir der Erde an (1. Buch Moses 6,11-13). Als Kain seinen Bruder Abel tötet, dringt der Schrei über die Tragweite seiner Tat aus der Erde: »Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden« (1. Buch Moses 4,10).
Das Verhältnis des Menschen zur Erde ist somit das Verhältnis eines ernsten Verbündetseins (Hiob 5,23). Ein Verrat dieses Bündnisses hat Not und Entbehrung (5. Buch Moses 11,17) und das Exil (3. Buch Moses 18,25) zur Folge. Seine Einhaltung und Achtung versprechen Langlebigkeit und ein friedvolles Leben (Hiob 5,23-26 und 5. Buch Moses 11,21). »Die Israeliten erkennen keinen Unterschied zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen. Erde und Steine sind lebendig, mit Seele durchtränkt, daher fähig, die Prägung durch eine geistige Substanz zu empfangen. Die Beziehung zwischen der Erde und ihrem Eigentümer ist ein Bündnisverhältnis, eine geistige Gemeinschaft, und der Eigentümer herrscht in dieser Beziehung nicht allein. Die Erde hat ihr eigenes Wesen, das sich bemerkbar macht und Achtung fordert«, lehrt Pederson.
Viele uralte jüdische Riten, die mystische Erfahrungen und Visionen hervorrufen sollten, hatten mit der Erde zu tun: sich auf die Erde legen und um den Kopf Steine gruppieren (1.Buch Moses 28,11) oder auf dem Boden kauern und dabei den Kopf zwischen den Knien halten (1. Könige 18,42). Aus diesen Berichten und anderen Überlieferungen wird deutlich, daß die Offenbarungserfahrung aus der Erde selbst hervorgeht: »Rede zur Erde, sie wird dich lehren« (Hiob 12,8). Nach der Vollendung seiner Vision küßte Rabbiner Shimon die Erde, die er während der gesamten Zeremonie angeblickt hatte (Sefer HaSofar). Rabbiner Hai Gaon (10. Jahrhundert) faßt es wie folgt zusammen: »Der Sucher der mystischen Erfahrung muß eine bestimmte Anzahl von Tagen fasten, seinen Kopf zwischen die Knie legen und viele traditionelle Gesänge und Gebete an die Erde flüstern. Dann werden ihm die inneren Mysterien der Erde gezeigt, und er wird zu einer Reise durch ihre sieben Kammern eingeladen.« Eine solche mystische Erfahrung konnte eine tiefe Weisheit sein, oder aber es wurde eine Technik für die Ausführung eines bestimmten Zaubers offenbart (Midrasch Heichalot Rabati 1,3).
Diese sieben mystischen Kammern der Erde, von denen Rabbiner Hai Gaon spricht, spielen bei der spirituellen Suche eine ebenso große Rolle wie die bekannteren Sieben Himmlischen Kammern. In der Tat verliehen die alten Weisen beiden gleich große Bedeutung und lehrten, daß beides sich im gemeinsamen Mysterium in der Siebenten Kammer begegnet und vereinigt (Sohar). Jede Kammer entspricht einem der sieben Namen der Erde (die in den verschiedenen Texten variieren) und steht für eine besondere Eigenschaft: Eretz bedeutet »verdichtet« und entspricht der Weisheit. Adama bedeutet Lehm, seine Eigenschaft ist Frieden. Arka heißt »innen« und bedeutet Gnade. Yabashah ist die trockene Erde, ihre Eigenschaft ist das Mögliche. Tehwel bedeutet »Wohnung«, ihre Eigenschaft ist der Überfluß. Charvah ist Veränderung, ihre Eigenschaft ist Leben. Geja bedeutet Rinne, ihre Eigenschaft ist Macht.
Die Heiligkeit der Erde wird in der jüdischen Tradition jenseits ihrer Beziehung zum Menschlichen, aber auch ihrer Beziehung zum Göttlichen geschildert. Wir werden gemahnt, die Erde nicht geringer als der Himmel zu sehen: »Daran wirst du erkennen, daß ich, Gott der Herr mitten im Land bin« (2. Buch Moses 8,18).
Der Autor ist Rabbiner und Direktor der amerikanischen Walking Stick Foundation.
www.walkingstick.org