von Rabbiner Tom Kucera
Eine der ersten Mizwot, die in der Tora
erwähnt werden, lautet: »Füllet die Erde und bezwingt sie« (1. Buch Moses 1,28). Die Bezwingung (hebr. Kibusch) der Erde fordert das Verständnis nicht nur ihrer Struktur und der auf ihr herrschenden Gesetze, sondern auch das Verständnis ihrer Entstehung. Die wiederum ist mit der Entstehung des gesamten Universums verbunden.
Am Mittwoch vergangener Woche wurde ein wichtiger Schritt in diese symbolische Bezwingung der Erde getan. In der Nähe von Genf wurde im Europäischen Zentrum für die Kernforschung (CERN) ein Teilchen-Beschleuniger (LHC, Large Hadron Collider) in Betrieb gesetzt, der zu der größten durch Menschen gebauten Anlagen gehören mag.
Mit dem Turmbau zu Babel hat das nichts zu tun, weil sich der CERN-Kreis-tunel im Umfang von 27 Kilometern unter der Erde befindet. Zwei beschleunigte und gegeneinander laufende Teilchenstrahlen werden dort aufeinanderprallen. Dabei zerstrahlen sie in einer Art Mini-Urknall in reine Energie, aus der sich dann neue Teilchen materialisieren. Der ganze Zauber beruht darauf, dass durch solche Experimente Bedingungen entstehen, die nach dem kosmischen Urknall am Anfang unseres Universums vor 13,7 Milliarden Jahren herrschten. Dies könnte mit einem »Blick in Gottes Küche« verglichen werden. Doch es geht nicht nur um die wissenschaftliche Erklärung des ersten Satzes der Tora, »Bereschit Bara« (Im Anfang schuf), sondern auch um die Beschreibung der möglichen Elementarteilchen, die theoretisch schon vor 44 Jahren von dem heute 77-jährigen Wissenschaftler Peter Higgs dargestellt, doch nie experimentell nachgewiesen worden sind. Diese sogenannte Higgs-Bosons werden gelegentlich als »Gottes Teilchen« bezeichnet, weil sie zur Erklärung beitragen können, wie die Materie überhaupt zum Gewicht kommt. Kann es eine effektivere Dokumentation der ersten Bitte in der Wochentags-Amida (Achtzehngebet) geben, in der wir anerkennen, dass der Mensch mit dem Verstand begnadet wurde, der zur Erkenntnis führen soll?
Dabei werden die Religion und die Wissenschaft immer noch getrennt bleiben, wie es auch der jüdische Physiker Werner Heisenberg forderte. Die Religion kann aufgrund der Bibel keine naturwissenschaftlichen Beweise bringen. Umgekehrt kann die Wissenschaft viele Fragen nicht beantworten, besonders nicht die philosophische Grundfrage von Gottfried Wilhelm Leibniz: Warum ist überhaupt et-
was, warum ist es nicht Nichts? Oder wissenschaftlich gefragt: Woher kommen die von Anfang an gegebenen Naturkonstanten, zum Beispiel die Lichtgeschwindigkeit und die Ladung des Protons?
Auch im Falle des LHC-Beschleunigers bleiben noch viele Fragen unbeantwortet, denn in der vergangenen Woche wurde nur der erste Teilchenstrahl in Bewegung gesetzt. In den kommenden Wochen sollen dann die Teilchenstrahlen in beide Richtungen gleichzeitig losgeschickt werden und erst nächstes Jahr dann mit voller Energie aufeinanderprallen. Dann wird es geschätzte ein bis vier Jahre dauern, bis die Ergebnisse interpretiert werden können. Hoffentlich werden wir schon im kommenden jüdischen Jahr 5769 von ersten Teilergebnissen hören.
Diese symbolische Bezwingung der Erde bringt nicht nur Begeisterung mit sich. Einige EU-Bürger haben gegen das Einschalten des LHC-Beschleunigers protes-tiert, weil sie befürchten, dass er kleine Schwarze Löcher produzieren wird, die unsere Erde verschlucken könnten. Vielleicht kann dieses unrealistische Horrorszenario als Mahnung zur Vorsicht genutzt werden, auf die in der Kernforschung sowieso penibel geachtet wird. Hoffentlich werden die Vorteile dieser symbolischen Bezwingung der Erde überwiegen. Es geht doch dabei auch um die Suche nach der Weltformel, die die Sehnsucht nach der Einheit zum Ausdruck bringt.
Interessanterweise ist die Naturwissenschaft aktiv auf der Suche nach einer einheitlichen, umfassenden Theorie, die alle vier Naturkräfte zusammen erklären würde. Die Suche nach einem einheitlichen System kann als eines der möglichen Konzepte Gottes betrachtet werden. Dass es eventuell ein übergeordnetes Naturgesetz gibt, ist schon eine Glaubensaussage, eine wissenschaftliche Glaubensaussage.
Mit der Annahme der Existenz Gottes wird allerdings die Kernfrage beantwortet, warum überhaupt etwas ist. Beantwortet wäre auch die Frage nach den Naturkonstanten, die von Anfang an die Entwick-lung des Universums bestimmen. Doch dass Gott eine Wirklichkeit ist, lässt sich nicht naturwissenschaftlich beweisen, sondern nur mithilfe der Emuna annehmen, die nicht mit Glaube, sondern mit Vertrauen übersetzt werden soll. Die Einheit ist eins. Oder wie wir im Schma-Gebet dreimal pro Tag sagen: Haschem echad. Das Ewige ist eins.
Der Autor ist Naturwissenschaftler und Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde München, Beth Shalom