von Wladimir Struminski
Lea Cohen sucht die innere Wahrheit. Wer zu ihr kommt, muss nicht viel reden. Name und Geburtsdatum reichen ihr für wichtige Aufschlüsse über den Besucher. Auch ein Blick auf die Handfläche ist ein wichtiger Anhaltspunkt, und im Kaffeesatzlesen ist Cohen ebenfalls bestens geübt, wie es sich gehört für eine Wahrsagerin. »Ich kann auf Anhieb seinen Cha- rakter oder die Zahl und die Namen seiner Kinder erkennen«, sagt sie. Um das Vertrauen neuer Besucher zu gewinnen, erzählt ihnen Lea oft Tatsachen, die nur sie selbst wissen können. Und selbstverständlich schaut sie in die Zukunft. Ob jemand erkranken oder einen Unfall erleiden oder es aber zu unerwartetem Reichtum bringen werde, ob die geplante Ehe glücklich verläuft oder in der Scheidung endet, ob sie Nachwuchs hervorbringen wird oder kinderlos bleibt – Leas innerem Auge, versichert sie, bleiben künftiger Segen ebenso wenig wie künftige Schicksalsschläge verborgen.
Deshalb strömen Ratsuchende in ihre Wohnung in einer ruhigen Straße von Netania. Gleich zu Beginn des Gesprächs klingelt das Telefon. »Eine dringende Frage? Aber sicher, komm doch später vorbei«, sagt die Hellseherin und legt auf. »Die Frau eines Oligarchen«, erklärt sie. »Ich habe ein wichtiges Ereignis im Leben ihres Mannes vorhergesagt, seitdem vertraut sie mir.« Den Namen des Milliardärs oder den seiner Gattin nennt Cohen nicht: Diskretion gehört zum Geschäft. Es sind aber nicht nur reiche Leute, die sie aufsuchen. »Menschen aus jedem Sozialstand kommen durch meine Tür«, sagt Cohen. Das heißt: Auch solche, die nicht zu dem gängigen Vorurteil passen, nur »primitive Menschen« würden sich Zukunftsdeutern anvertrauen. »Gerade vor einigen Tagen waren zwei Frauen in absoluten Toppositionen bei mir. Sie kommen schon seit vielen Jahren.« Auch eine Psychologin gehört zum Kundenstamm, von Geschäftsleuten ganz zu schweigen. Selbst Politiker – bis hin zu Ministern – schätzen gelegentlich Leas Rat. Allerdings schicken sie meistens ihre Frauen vor. Besonders beliebt ist die Frage, ob der werte Gatte die nächste Wahl gewinnen werde.
Die Einsichten ins Verborgene kommen »wie ein Blitz«, erklärt Cohen. »Ich sehe Zeichen, die ich deuten kann.« Wie das geschieht, weiß sie selbst nicht, doch braucht sie Anhaltspunkte. Das Telefonbuch von Mexico City öffnen und einem zufällig herausgegriffenen Rodrigo Gonzales die Zukunft vorhersagen – das ginge nicht. Die physische Präsenz der betreffenden Person ist jedoch nicht immer erforderlich. Beispielsweise glaubt Lea, aufgrund eines Fotos erkennen zu können, ob der oder die Abgebildete am Leben ist: In einem Fall brachte eine Frau das Bild ihres Sohnes mit, der sich längere Zeit von einer Abenteuerreise nach Südamerika nicht gemeldet hatte. »Ich schaute mir das Foto an und konnte der besorgten Mutter erklären, ihr Sohn lebe nicht nur, sondern werde bis zum nächsten Freitag anrufen. Das war dann auch der Fall.«
Für Prominente, die sie lediglich aus dem Fernsehen kennt, hat Lea ebenfalls ein Gespür. Sie habe vorausgeahnt, dass Palästinenserführer Jassir Arafat aus gesundheitliche Gründen von der Bühne abtreten und Israels früherer Premier Ariel Scharon schwer erkranken würde. Nicht immer aber werden Einzelheiten des künftigen Geschehens deutlich. So konnte Cohen der besorgten Mutter eines Wehrdienstleistenden vor über zwei Jahren lediglich sagen, der junge Mann werde den gerade stattfindenden Lehrgang nicht absolvieren und in Zukunft ein Beinproblem haben. Kurze Zeit später brach der zweite Libanonkrieg aus, aus dem der Soldat beinamputiert zurückkehrte. Einen »Konflikt im Norden« hatte Cohen einige Monate zuvor erkannt. Üblicherweise betreffen ihre Vorhersagen eher das Schicksal von Menschen als allgemeine Entwicklungen. »Auch die Zahlen der nächsten Lottoziehung vermag ich nicht im Voraus zu erkennen«, bekennt Cohen.
Was sie ebenfalls nicht kann, ist Menschen durch Geheimkräfte beeinflussen oder das Schicksal abwenden. »Vor vielen Jahren«, erinnert sie sich »nannte mich eine Nachbarin zornig ›Wiedzma‹. Das heißt ›Hexe‹ auf Polnisch. Gerade das bin ich aber nicht.« Aus jüdischen Quellen schöpft Lea, die sich als gläubig bezeichnet, wenngleich nicht im orthodoxen Sinne, kaum. Allerdings betont sie, ihre Kunst widerspreche nicht der Halacha und werde selbst von Ultraorthodoxen beansprucht.
Diese besondere Fähigkeit hat sie geerbt. »Mein Vater stammt von griechischen und italienischen Juden ab. Meine Großmutter hatte in Ägypten gelebt und dort ihren Freundinnen die Zukunft aus dem Kaffee gelesen. Auch mein Vater hatte hellseherische Begabungen, machte davon aber selten Gebrauch.«
Nach ihrem Armeedienst beschäftigte sich Lea mit Mystik nur als Hobby. Das änderte sich erst 1985. »Ich kam eines Tages nach Hause. Mein Vater saß da mit einem Kaffeeglas in der Hand und sagte: ›Ich werde bald sterben, hier, schau selbst‹. Ich blickte in das Glas und sah es auch. Natürlich versuchte ich, die ganze Sache als Unsinn abzutun, doch drei Monate später erlag er einer Gehirnblutung.« Um ihrer Mutter, einer aus Ungarn stammenden Auschwitzüberlebenden, besser helfen zu können, nahm Lea eine Managementstelle in einem Großbetrieb an. Dort wurde sie für viele Arbeitskolleginnen zur Retterin in der Not und machte vor 20 Jahren ihre Begabung zum Beruf. Heute ist sie eine in einschlägigen Kreisen auch über Israels Grenzen hinaus anerkannte Autorität.
Nicht alle Zukunftsvisionen verrät Lea ihren Kunden: »Wenn ich sehe, dass jemand bald sterben wird, behalte ich das für mich.« Auch bei Ehekrisen ist Vorsicht geboten. »Macht der Ehemann einen gewaltbereiten Eindruck, verschweige ich den Seitensprung der Frau, auch wenn ich ihn sehe. Ich will nicht riskieren, dass er sie verletzt oder gar tötet.«
In anderen Fällen hingegen ist brutale Offenheit angesagt. »Einem Mann habe ich im Beisein seiner Frau erklärt, er sei nicht nur homosexuell, sondern auch pädophil. Er konnte nur noch kraftlos nicken.« Durch die bittere Wahrheit wollte Cohen nicht nur der ahnungslosen Ehefrau die Augen öffnen, sondern auch die Kinder beschützen.
Gewiss: Jedermanns Sache ist die Wahrsagerei nicht. Allerdings sieht Lea Cohen in der israelischen Gesellschaft hinter der Fassade der Sachlichkeit und Rationalität einen starken Bedarf an mystischen Inhalten. Wie es scheint, wird ihr Telefon noch öfter klingeln.
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