Einerseits ist meine Woche sehr geregelt, andererseits kann sie sehr chaotisch sein. Geregelt ist meine Zeit, weil mein jüngerer Sohn noch zur Schule geht und ich feste Probenzeiten mit meinen Chören habe. Chaotisch ist sie, weil zu meiner Tätigkeit Kreativität und Spontaneität gehört. Ich bin Musikwissenschaftlerin und ausgebildete Chorleiterin. Vor mehr als 15 Jahren kamen mein Mann, der ältere Sohn und ich aus der Ukraine nach Wuppertal. Kurz nach unserer Ankunft konnte ich schon für die Gemeinde tätig werden.
Mittlerweile habe ich dort eine feste Anstellung. Ich arbeite mit Kindern, Jugendlichen und Senioren. Das heißt, ich bin vor allem für die kulturelle Ausgestaltung von Feiertagen, Veranstaltungen für die Gemeindemitglieder und in der Öffentlichkeit verantwortlich. Ich suche, finde oder erarbeite selbst Szenarien für Aufführungen. Ich suche Texte, Lieder und Tänze aus und studiere sie mit meinen Kollegen ein. Ich organisiere aber auch Gruppen, die zum Thema des jeweiligen Festes Schmuck basteln.
Mein Tag beginnt gewöhnlich damit, dass ich meinen Sohn für die Schule vorbereite. Neben der üblichen Hausarbeit klingelt ständig das Telefon oder der Computer meldet mir eingehende E-Mails, die beantwortet sein wollen. Es gilt Vorbereitungen zu treffen und vieles zu organisieren und abzusprechen. Ansonsten arbeite ich meist, wenn andere Freizeit haben, das heißt am späten Nachmittag, abends, sonntags, dann, wenn es mein Familienleben zulässt.
Am Montagnachmittag übe ich mit einer Gruppe Frauen, danach kommt für zwei Stunden der große gemischte Chor mit etwa 40 Sängerinnen und Sängern. Er heißt »Masel tov«. In manchen Monaten haben wir viele jüdische Feiertage und entsprechend viele Veranstaltungen oder Konzerte. Aber manchmal finde ich auch Zeit und Muße, um mich neuen Liedern, Kompositionen und Arrangements widmen zu können. Das liebe ich sehr. Denn wenn ich für einen Anlass keine passenden Lieder finde, komponiere ich sie selbst. Die Idee entsteht zunächst im Kopf, oftmals in der Nacht. Entweder setze ich sie dann sofort, spätestens aber am nächsten Tag in Noten, Arrangements oder Szenarien um. Dafür habe ich im Computer ein spezielles Notenprogramm.
Gerade habe ich für den Kinderchor, der sich immer sonntags trifft, ein Lied zu Purim geschrieben. Ich hatte einen ansprechenden Text gefunden, aber keine schöne Melodie dazu. Die Chormitglieder sind zwölf bis dreizehn Jahre alt und wollen keine Kinderlieder mehr singen, die wollen etwas Flotteres. Es ist ein wunderschönes Gefühl, wenn Proben gelingen, wenn sich eigene Kompositionen stimmig anhören und wenn Sänger und Zuhörer begeistert sind.
Weitere feste Termine sind bei mir donnerstags die Männergesangsgruppe und unsere Proben im Damen-Trio, bei dem ich selbst mitsinge. Dann findet noch die zweite wöchentliche Probe des großen Chores statt. Ich trete auch gemeinsam mit meinem Mann auf, er spielt Keyboard, ich singe. Seit fast 20 Jahren sind wir ein eingespieltes Team.
Unsere Chöre sind sehr flexibel. Wir können große Gruppen zum Konzert mitnehmen und kleinere. Natürlich ist es viel Arbeit, besonders da ich fast nur mit Laien arbeite. Aber die Begeisterung ist auf beiden Seiten groß, und im Laufe der Jahre haben sich tiefe, warme Beziehungen entwickelt, die mir sehr am Herzen liegen. Und wenn aus Kindern Jugendliche werden und die Wege sich trennen müssen, bleibt doch eine gute Erinnerung und die Freude, dass neue Kinder kommen.
Manchmal arbeite ich auch mit anderen Chören zusammen. Gerade gestern war die Probe mit dem Chor einer befreundeten evangelischen Gemeinde. Wir gestalten demnächst gemeinsam ein Benefizkonzert für vergewaltigte Frauen im Kongo. Die Probe hat sehr viel Spaß gemacht. Überhaupt bin ich dankbar und glücklich, dass ich in meinem Beruf arbeiten kann und sogar Geld damit verdiene. Er ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich empfinde es als ein sehr großes Glück, dass ich vor 15 Jahren zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Vom damaligen und jetzigen Vorsitzenden unserer Gemeinde, Leonid Goldberg, haben wir viel Unterstützung erfahren.
Kennengelernt haben wir ihn vor 18 Jahren. Damals war ich Mitglied des jüdischen Theaters in Odessa, das zu einem Gastspiel in Leverkusen war. Das hatte auch Herr Goldberg gesehen. Damals lief bereits unser Antrag zur Auswanderung. Und Herr Goldberg machte uns Mut, nach Deutschland zu kommen und gab uns seine Visitenkarte. Als wir nach Hause kamen, lag der Ausreisebescheid im Briefkasten. Es ging dann alles recht schnell. Wir waren Nordrhein-Westfalen zugeteilt und kamen zunächst nach Unna-Massen. Als wir gefragt wurden, in welche Stadt wir wollten, waren wir ratlos. Da fiel uns die Visitenkarte wieder ein. Mein Mann rief an und war ganz erleichtert, dass am anderen Ende auch russisch gesprochen wurde. Frau Goldberg war dran und riet uns, nach Wuppertal zu kommen. Heute denke ich, das war wunderbar, dass sich das so ergeben hat.
Ich liebe Wuppertal. Mein älterer Sohn, der mittlerweile in Berlin eine Schauspielausbildung ge- macht hat, sagt immer: »Ach, das ist ein Kaff.« Aber ich fühle mich sehr wohl hier. Besonders liebe ich meine Wohnung. Nach den Wochen im Flüchtlingsheim, nach den Jahren in einer Sozialwohnung bin ich ganz verliebt in unsere jetzige Wohnung.
Anschluss zu Deutschen habe ich vor allem durch eine weitere Aufgabe gefunden. Auf Anraten einer Freundin bewarb ich mich trotz meiner schlechten Deutschkenntnisse auf die Stelle einer Chorleiterin. Ich bekam den Posten. Seit elf Jahren leite ich nun einen gemischten Chor mit einer über 100-jährigen Tradition, die »Philomele Singgemeinschaft«. Inzwischen sind dort auch einige Mitglieder des Gemeindechores aktiv, was ich für einen Schritt zu gelungener Integration halte. Jeden Dienstagabend treffen wir uns zur Probe. Das Repertoire ist breiter als bei den jüdischen Chören. Wir unternehmen auch ge- meinsame Ausflüge. Das war für mich von Anfang an eine sehr gute Erfahrung mit Deutschen. Ich erlebte Menschen, die mich sofort akzeptierten. Sie hatten Geduld und waren sehr nett zu mir. Ich selbst bin sehr impulsiv und emotional, und als ich nach Deutschland kam, wusste ich nicht, ob ich mit dieser Mentalität hier zurechtkommen würde. Im Chor brauchte ich diese Angst nicht zu haben.
Auch auf die jüdische Gemeinschaft war ich einigermaßen gut vorbereitet. Erste Erfahrungen mit Jüdischkeit und jüdischer Musik hatte ich in Odessa gemacht. Heute habe ich eine riesige Palette an Musikstücken und verstehe, was ich singe und warum. Vieles habe ich mir selbst erarbeitet, doch manches habe ich durch Seminare der Zentralwohlfahrtsstelle in Bad Sobernheim dazugelernt. Ich habe dort viele Anregungen und Materialien bekommen, die meine Begeisterung und Kreativität anschließend noch lange beflügelt haben.
Mit Stolz erfüllt mich ein weiteres Highlight: die Israelreise des Chores im Oktober 2007. Wir hatten einige erfolgreiche Auftritte – vor allem zur Feier der 30-jährigen Wuppertaler Städtepartnerschaft mit Beer Sheba. Außerdem durften wir bei der Einweihung des Paul-Spiegel-Waldes des Keren Kayemeth LeIsrael singen. Nach der Rückkehr haben wir dann unsere erste CD aufgenommen.
Viel Zeit und Ideen fließen gerade in das aktuelle Projekt. Mit der Leiterin der Remscheider Musikschule, Beate Morvai, und ihrer Tanzgruppe wollen wir ein Musical auf die Beine stellen. Die Handlung haben wir uns selbst ausgedacht, Tänze und Lieder haben wir gemeinsam ausgesucht. Anfang kommenden Jahres ist die Aufführung geplant. Die Geschichte wird von einem Jungen handeln, der sich auf die Bar Mizwa vorbereitet. Die Geschichte hat autobiografische Züge. Wir werden bald die Bar Mizwa meines jüngsten Sohnes feiern. Außerdem werde ich im April 50 Jahre alt. Vor knapp einem Jahr wurde unser Enkelsohn geboren, und ich bin eine ganz stolze Oma.
Aufgezeichnet von Annette Kanis