La-wie?» Selbst in der Schweiz löst die Frage, wo denn die Uhrmacherstadt La Chaux-de-Fonds (ausgesprochen «Laschodfon»), genau liege, oft nur Kopfschütteln und Fragezeichen aus. Der 40.000-Seelen-Ort im Neuenburger Jura befindet sich buchstäblich am Ende der Schweiz. Wer sich der Stadt mit dem Zug nähert, hat unweigerlich das Gefühl, nach einer Fahrt durch eine wunderschöne Landschaft in einer Art Zonenrandgebiet angekommen zu sein, denn die französische Grenze ist sehr nah. Im Winter schirmen in der rund 1.000 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Stadt die Schneemassen die Einwohner vom Rest der Schweiz ab. Aber auch im Sommer fühlt man sich hier weit weg von den großen Zentren des Landes.
«La Chaux-de-Fonds ist die große Vergessene» schrieb einst die Neue Zürcher Zeitung. Doch das könnte sich nun ändern: Vor Kurzem hat die Weltkulturorganisation UNESCO die kleine Stadt, zusammen mit dem kleinen Schwesterort Le Locle, ins Weltkulturerbe aufgenommen. Zu verdanken hat La Chaux-de-Fonds das seiner Rolle als Zentrum der Uhrenindustrie. Protestantische Uhrmacher aus Frankreich strömten im 17. Jahrhundert – in ihrer Heimat verfolgt – in den Schweizer Jura und ließen sich hier nieder.
karl Marx Dass die Stadt Ende des 18. Jahrhunderts, nachdem ein Brand sie völlig zerstört hatte, wieder neu aufgebaut wurde, ist ein weiterer Grund für die Aufnahme ins Weltkulturerbe. Quasi auf dem Reißbrett entstand das neue La Chaux-de-Fonds, mit einer langen Straße, der Avenue Leopold-Robert. Nach dem Neuaufbau siedelte sich hier schnell Industrie an, sodass Karl Marx bei einem Besuch in La Chaux-de-Fonds sagte: «Diese ganze Stadt ist eine Fabrik.»
Ob der Trierer Philosoph wusste, dass sich hier im Ort auch eine jüdische Gemeinde angesiedelt hatte? 1860 wurde sie gegründet und ab 1863 verfügte sie sogar über eine Synagoge. In La Chaux-de-Fonds fanden nicht nur protestantische (und einzelne katholische), sondern auch jüdische Flüchtlinge aus dem benachbarten Frankreich, vor allem aus dem Elsass, eine neue Heimat.
Allerdings verhinderte das relativ tolerante Klima selbst hier nicht den Judenhass. Mehrfach wurden jüdische Uhrmacher Opfer von tätlichen Angriffen neidischer Konkurrenten. Einige jüdische Familien siedelten darum Ende des 19. Jahrhunderts ins größere und weltläufigere Genf um.
Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg brachten der jüdischen Gemeinde der Stadt dennoch ihren größten Aufschwung. Sie zählte da um die 900 Menschen, hatte mit Jules Wolff sogar einen eigenen Rabbiner und mit der neuen Synagoge im neobyzantinischen Stil – eröffnet 1896 – regelrecht ein kleines Schmuckkästlein.
denkmalsschutz Seither ist es Schritt für Schritt wieder bergab gegangen. Zu sehr war die jüdische Gemeinschaft von La Chaux-de-Fonds mit der lokalen Uhrenindustrie verbunden, und die litt in den 30er- und dann auch wieder in den 70er-Jahren schwer. Die Gemeinde kennt deshalb seit Jahren fast nur eine einzige Richtung: die von oben nach unten. Seit 1970 gibt es keinen hauptamtlichen Chasan mehr, der letzte Rabbiner wurde 1978 verabschiedet. Seither hat La Chaux-de-Fonds nur noch einen «guide spirituel», einen geistigen Führer. Die wunderschöne Synagoge steht längst unter Denkmalschutz und wird nur noch an den Feiertagen benutzt. Am Schabbat tut es ein kleiner Betsaal, in der Regel kommt ein Minjan zusammen.
Gleichwohl gab es auch in der jüngeren Geschichte durchaus auch Höhepunkte. Zum Beispiel 2008, als die jährliche Delegiertenversammlung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) hier tagte – und der damalige Schweizer Bundespräsident Pascal Couchepin in der Synagoge seine Nähe zur jüdischen Religion bekundete. Dass bei dieser Gelegenheit der Ehrengast der Versammlung, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, den Schweizer Juden ausgerechnet in La Chaux-de-Fonds seine Aufwartung machte, hat Gemeindepräsident Bernard Leitenberg sehr gefreut.
minjan Illusionen, dass Lauders Besuch oder die Aufnahme der Stadt ins Weltkulturerbe der Gemeinde neuen Aufschwung bringen könnte, macht sich der Mitvierziger, Besitzer eines Möbelgeschäftes in der Stadt, nicht. «Aber vielleicht kommen demnächst mehr jüdische Touristen, die sich die Stadt anschauen wollen», sagt er. Und möglicherweise bliebe der eine oder andere bis zum Schabbat und verstärkt den Minjan.
Leitenberg sieht die Chance für seine Gemeinde denn auch eher in der Umgebung, im Kanton Neuchâtel (Neuenburg), zu dem La Chaux-de-Fonds gehört. Nicht wenige der rund 150 Gemeindemitglieder wohnen mittlerweile nicht mehr in der Stadt, sondern im Umland oder in der Kantonshauptstadt Neuenburg, wo es nie eine eigene jüdische Gemeinde gegeben hat. Aus der Jü- dischen Gemeinde La Chaux-de-Fonds soll darum bald eine Jüdische Gemeinde im Kanton Neuenburg werden.