von Theresa Bäuerlein
Als ich aufwachte, am Tag nach unserer Landung, wusste ich nicht, was mich geweckt hatte. Das Hupen der Rikschas auf der Straße, die an unserem Zimmerfenster vorbeiführte, oder das heiße, zerrissene Laken des Hotelbetts, das an mir klebte. Tom lag neben mir und hatte es sich über den Kopf gezogen. Ich betrachtete die weiße Zimmerdecke, durch die sich feine Risse zogen, und hörte der fremden Welt zu, die draußen lärmte. Gestern waren wir noch in Tel Aviv gewesen.
Zum ersten Mal hatte ich den August bei Tom verbracht. Doch am Ende verließen wir die Stadt, weil die feuchte Hitze langsam aber sicher unsere Nerven durchscheuerte. Der israelische Sommer führte dazu, dass selbst die modebewussten Menschen auf der Schenkin-Straße in knallbunten Gesundheitssandalen einkaufen gingen, weil alle anderen Schuhe wie Schnellkochtöpfe auf Füße wirkten. Ich war so gereizt, dass ich tiefe Wut gegenüber Menschen empfand, die das Verbrechen begangen, im Supermarkt den Blick auf das Humusregal zu versperren oder die gleiche Straße wie ich zu benutzen. Tom ging es nicht besser, obwohl er als geborener Israeli daran gewöhnt sein musste. Schließlich waren wir geflüchtet, und weil wir uns kein kühleres Land leisten konnten, landeten wir in Indien. In Delhi war die Hitze zwar noch schlimmer, aber unser Ziel, der kalte Himalaja, fast schon zum Greifen nah.
Leise stand ich auf, griff ein T-Shirt aus dem Haufen, den der Inhalt unserer beiden Rucksäcke auf dem Tisch bildete, und ging duschen.
Nach zehn Minuten klopfte Tom an meine Tür: »Beeil’ dich, sonst verpassen wir alles«, rief er.
»Was verpassen wir?«, fragte ich zurück.
»Heute ist Rosch Haschana.«
»Was?«
»Neujahr!«
Ich stellte die Dusche ab und machte mir ein bisschen Sorgen um Toms geistige Klarheit. Neujahr? Es war Mitte September.
Wenig später schoben wir uns durch den geräuschdurchtränkten Markt in De- lhis Viertel Paharganj. Die Straßen sahen aus, als wären Lastwagen mit Farbtöpfen in ihnen explodiert. Die Luft war von einer Qualität, die deutsche Behörden mit gesetzlichen Warnhinweisen versehen würden. Während ich versuchte, sie zu atmen, bemühte sich Tom, mir den jüdischen Kalender zu erklären, der Neujahr tatsächlich auf den heutigen Tag legte. In diesem Moment interessierte mich das, ehrlich gesagt, wenig. Während Tom unbeirrt über Honig und Äpfel redete, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Bild Indiens, das nicht über einen Fernsehbildschirm flimmerte. Dünne, sehnige Männer zogen mit Fahrrädern Anhänger, auf denen in glänzende Saris gewickelte Frauen saßen, die würdevoll in die Ferne blickten. Erdnüsse rösteten in Pfannen, Touristen blieben mit ihren riesigen Rucksäcken in niedrigen Hauseingängen hängen, und Kühe, deren Hörner sich in unmöglichen Winkeln bogen, versperrten jedermann den Weg. Es war genau das, was ich mir gewünscht hatte. In den dreizehn Monaten, die Tom und ich bereits zusammen waren, hatte es bei den Treffen in München und Tel Aviv jedes Mal ein grundsätzliches Problem gegeben. Einer von uns war immer in der Fremde zu Besuch gewesen. Wir hatten kein gemeinsames Zuhause. Aber hier in Indien hatten wir endlich einmal die gleichen Voraussetzungen: Wir waren beide fremd.
»Schalom«, sagte ein Herr im langen schwarzen Mantel, mit schwarzem Hut und Schläfenlocken, als wir um die nächste Ecke bogen. Er lächelte aufgeräumt. Neben ihm bot ein Geschäft indische Butterplätzchen an. »Schalom«, gab Tom zurück. Ich starrte ihn an. Der Mann begann, auf Hebräisch zu reden. Mein Freund nickte und grinste. Ich verstand kein Wort. Am Ende gab der Mann Tom die Hand, mir nicht. Wir gingen weiter.
»Was?«, fragte ich nach einigen Metern.
»Ach, er lädt uns zu seiner Rosch-Haschana-Feier ein.«
»Was?«, fragte ich noch einmal. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Hier«, sagte Tom. Wir standen vor dem weiß gekachelten Eingang eines kleinen, heruntergekommenen Hotels. Durch die offene Tür konnte ich einen Inder im blau-weißen T-Shirt sehen, der den Fußboden der Lobby wischte. Er warf mir einen kurzen Blick zu und rief »Maschlomech?« Sein Hebräisch hatte einen indischen Akzent. Tom sah mich an. »Willst du hier rein?« Ich scharrte mit den Füßen, sie schwitzten in meinen knallbunten Gesundheitssandalen.
Am Abend waren wir mittendrin. Nicht bei der Feier des orthodoxen Herrn in Schwarz, sondern bei einer privaten Party israelischer Touristen, die wir beim Mittagessen in einem Café kennengelernt hatten. Auf der Speisekarte hatten neben den verschiedenen Currys wie selbstverständlich auch Humus, Falafel und der in Israel beliebte Salat aus Gurken- und Tomatenwürfeln gestanden. Ich hatte davon gehört, dass Indien bei israelischen Touris- ten als Reiseziel beliebt war. Erst langsam begann ich, das Ausmaß dieser Beliebtheit zu begreifen. Die Israelis hatten Indien noch dichter besiedelt als die Deutschen Mallorca. Mit dem Unterschied, dass Deutschland ein großes Land ist und Mallorca klein, während es sich mit Israel und Indien umgekehrt verhält. Anders gesagt: Ich hatte das Gefühl, dass etwa ein Sechstel der israelischen Bevölkerung mit uns in Delhi unterwegs war. Nicht zufällig hatte sich der Mann in Schwarz hierher verirrt. Wie Tom mir erklärte, gingen Anhänger der Chabad-Bewegung nach Indien, da die vielen jungen Israelis, die nach dem Armeedienst durchs Land driften, abenteuerlustig und häufig bekifft, empfänglich für alles Spirituelle waren, selbst die eigene Religion. Überall in Paharganj hingen Zettel mit hebräischen Schriftzeichen, Restaurants boten koschere Menüs an. Mehrere Inder brachten mich in Verlegenheit, weil ich ihrem flüssigen Hebräisch ein hilfloses »Do you speak English?« entgegnen muss- te. Der Main Market von Paharganj erinnerte mich auf verwirrende Weise an den Karmel-Markt in Tel Aviv.
Jemand hatte einen iPod an seine Reiselautsprecher angeschlossen, die Musik der Gruppe Hadag Nachasch schepperte durch den Raum. Joints wurden gedreht, Apfelschnitze in Honig getaucht, viele Stimmen versuchten, die Musik zu übertönen. Ich fragte mich, wie es bei der Chabad-Feier zuging. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie dort auch diese Karten verteilten, die hier, im Speisesaal eines heruntergekommenen Hostels, auf dem Boden lagen. »Möge das Jahr ein traumhafter Trip werden«, stand darauf. Die Initialen der einzelnen Worte bildeten die Bezeichnung für das neue Jahr, dessen Zahl offenbar in Buchstaben ausgedrückt wurde. Mir schwirrte der Kopf. Ich versuchte, das Fest gut zu finden, aber es blieb eine Party, bei der ich kein Wort verstand.
Tom legte einen Arm um meine Schulter und sang den Text zur Musik mit. Mir wurde klar, wie wenig ich eigentlich über ihn wusste. Eine Distanzbeziehung über 3.000 Kilometer Luftlinie brachte es mit sich, dass es mir immer noch vorkam, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt. Am Anfang war ich überrascht gewesen, wie mühelos wir uns verstanden, obwohl er Israeli war und ich Deutsche, er Jude und ich Christin. Wir waren beide nicht religiös. Aber ich hatte Hemmungen, in seiner Gegenwart deutsch zu sprechen, und etwas Angst davor, seine Großmutter kennenzulernen, die sich an ihre Zeit in Theresienstadt noch sehr genau erinnern konnte. Ich dachte, die Vergangenheit würde uns belasten, aber stattdessen vertiefte sie unsere Beziehung. Mit Tom bei seiner Großmutter zu sitzen, Auberginen mit Mayonnaise zu essen und englisch-deutsches Kauderwelsch zu reden, gab mir das Gefühl, dass wir stärker als die Geschichte sein konnten.
Jetzt, in Indien, war Tom mir auf einmal fremd. Einige Gäste fassten sich an den Händen und sangen laut »Schana towa, Schana towa«. Das Lied dröhnte in meinem Kopf, es roch nach Rauch und Schweiß. Und ich fühlte mich so ausgeschlossen, dass ich am liebsten aus vollem Hals »Oh Tannenbaum« angestimmt hätte.
Dann wurde es dunkel, die Musik ging aus, sofort verstummten auch die Sänger. Durch die geöffneten Fenster drang das Hupen und Klingeln der Rikschas, der dicht gewebte Geräuschteppich der Straße. Dann redeten alle durcheinander.
»Stromausfall«, sagte Tom. »Jemand sollte dem Personal hier Bescheid sagen, damit die uns Kerzen besorgen.«
Ich sprang auf. »Ich gehe schon.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein«, rief ich schnell.
Toms Gesicht, ein helles Oval im Dunkeln, zuckte leicht zusammen. »Ich komme gleich wieder«, sagte ich.
Draußen lehnte ich mich an eine Hauswand und atmete tief die fremde, herbe Luft ein. Ich merkte, dass ich neidisch war. Die meisten Deutschen, die ich kenne, gehen ihren Landsleuten im Ausland aus dem Weg. Tom fand nichts dabei, dort oben in einem Zimmer voller Israelis zu sitzen und dabei beste Laune zu haben. Ich versuchte, die Situation umzudrehen, mir vorzustellen, es sei Silvester in Delhi, wir seien von deutschen Touristen umgeben und würden zum Klang deutscher Musik von Indern zubereiteten Sauerbraten essen. Ich schüttelte den Kopf und machte mich auf die Suche nach den Kerzen.
Ich fand einen kleinen Jungen, dem ein Brett vor dem Bauch hing, auf dem Kerzen, Streichhölzer und Feuerzeuge lagen. Seine Hände konnten das Dutzend, das ich verlangte, kaum halten. Er zupfte eine dünne, gelbe Plastiktüte aus seiner Tasche und packte die Kerzen ein. Ich gab ihm das Geld. »Schana towa«, sagte er. Ich lachte, viel höher als normalerweise. »Thank you«, gickste ich. Seltsam, aber auf einmal fand ich es angenehm, dass er mich für einen Teil des Ganzen, dieser ungewohnten großen Verbrüderung hielt.
Ich kicherte immer noch leise, als ich zur Party zurückkehrte. Der Raum lag im Halbdunkeln. Auf dem Boden saßen Schattengestalten, Zigaretten glühten als Lichtpunke in der Dämmerung. Es gab keine Halter, also nahmen die Leute die Kerzen einfach in die Hände. Überall im Zimmer leuchteten Gesichter golden auf. Je- mand zupfte auf einer Gitarre. Das Singen setzte wieder ein. Ich ließ ein Stück Apfel mit Honig auf der Zunge zergehen und lehnte meinen Kopf gegen Toms Schulter, die von seinem Gesang vibrierte. Ich freute mich sehr auf die Reise. Wir waren ja erst am Anfang. Das bisschen Hebräisch, das ich brauchen würde, konnte mir Tom sicher beibringen.
Die Autorin (29) ist Kolumnistin der »Süddeutschen Zeitung« und von »Neon«. Soeben ist ihr erster Roman erschienen: »Das war der gute Teil des Tages« (S. Fischer Verlag, 7,95 Euro).