Irina Kenigstaijn versteht die Welt nicht mehr. Ihrer Mutter werden neuerdings 100 Euro von ihrer Grundsicherung abgezogen. Die 68-jährige jüdische Zuwandererin aus Russland lebt ohnehin vom Minimum. Und jetzt auch noch das. »Damit hat sie nicht gerechnet«, sagt Kenigstaijn. Sie will sich kundig machen, ob das denn rechtens ist. »Es ist«, sagen die Fachleute übereinstimmend.
Die Formel ist so einfach wie ernüchternd: Wer die bedarfsorientierte »Grundsicherung im Alter« bezieht, muss weitere Einkünfte angeben. Bekommt er von irgendwo Geld, wird es ihm von dem er-
rechneten tatsächlichen Bedarf abgezogen. Altersrenten aus der ehemaligen Sowjet-
union gelten als Einkünfte. Viele ältere jüdische Zuwanderer wie Irina Kenigstaijns Mutter sind deswegen verunsichert.
Mit dem 27. Dezember 2003 ist die be-
darfsorientierte Sozialleistung zur Sicherstellung des notwendigen Lebensunterhalts Gesetz geworden. Seitdem wird der Bedarf jedes einzelnen Leistungsbeziehers wie Unterkunfts- plus Heizkosten mit dem Regelsatz von derzeit 351 Euro zusammengerechnet und das eigene Einkommen – wie etwa die Altersrente – von dieser Summe abgezogen.
Rentenanstieg »Diese Regel trifft aber nicht nur unsere Leute, das geht deutschen Rentnern oder einem Inder, Türken oder Ghanaer, der in Deutschland lebt, ganz genauso, wenn er Sozialleistungen be-
zieht«, betont Paulette Weber, Sozialreferentin der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt). Bis vor einigen Jahren fielen die wenigen hundert Rubel, die umgerechnet vielleicht etwa 40 Euro pro Monat ausmachten, jedoch nicht ins Gewicht«, erzählt die Sozialreferentin.
»Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall der Sowjetunion waren die Altersrenten noch sehr gering. Doch nach und nach sind auch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion die Renten gestiegen.« So sind aus den paar Euro nun umgerechnet teilweise bis 200 Euro geworden. Und das bringe die Sozialämter auf den Plan. War der Verwaltungsaufwand vor Jahren noch kostenintensiver als die Rente wert, so bilden die Altersbezüge jetzt durchaus einen erheblichen Kostenfaktor.
Hinzu komme, so Paulette Weber, dass in den heutigen Krisenzeiten die Kommunen natürlich auf jeden Cent achten und möglicherweise nun rigoroser das fehlende Geld eintreiben. »Denn daran ist leider kein Zweifel: Die Sozialämter dürfen das Geld einfordern!«, erklärt Weber. Nun liegt es bei den Sozialämtern, wie sie mit den einzelnen Grundsicherungsempfängern umgehen. Denn eigentlich sind sie sogar berechtigt, die über Jahre zu viel gezahlten Leistungen zurückzuverlangen.
Assja Kazwa, Mitarbeiterin der Sozialabteilung bei der ZWSt, weiß, wie hart das für den Einzelnen ist und hat aus menschlicher Sicht vollstes Verständnis für die äl-
teren Zuwanderer, die sich verunsichert fühlen. Einige von ihnen bekommen ne-
ben der Altersrente Zuwendungen, weil sie unter den Opfern der Leningrader Blockade waren oder in einem Ghetto oder KZ eingesperrt waren. Diese zweckbestimmten Einnahmen dürfen nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. »Sie müssen aber deutlich auf der Rentenbescheinigung ausgewiesen sein«, erklärt Svetlana Pasternak-Pustilnik, Sozialarbeiterin in Frankfurt.
Nachweispflicht Hier ergibt sich wieder ein neues Problem. Die russischen Renten sind in den seltensten Fällen so differenziert belegt. »Und die russischen Ämter sind auch gar nicht dazu verpflichtet, detaillierte Rentenbescheinigungen auszustellen«, ergänzt Kazwa von der ZWSt. Das hat zur Folge, dass die Rentenbezieher im Einzelfall nachweisen müssen, welcher Anteil auf die Altersrente und welcher auf einen Ghetto- oder Blockadezuschuss entfällt. Auch die Opferrenten und einmalige Entschädigungen, die in Deutschland die Jewish Claims Conference an Schoaüberlebende ausbezahlt, dürfen nicht von der Grundsicherung abgezogen werden.
Gerade weil ihre Altersrenten lange Zeit so verschwindend gering waren, haben sie manche Gemeindemitglieder erst gar nicht angegeben. Jetzt werden sie mit Pauschalsummen veranschlagt. »Um ihre Einkommensbezüge so differenziert wie möglich darstellen zu lassen und möglichst niedrige Altersrenten nachzuweisen, fahren jetzt viele unserer Leute in ihre ehemalige Heimat«, erzählt Pasternak-Pustilnik. Wer diesen Aufwand scheut oder von vornherein keine Aussichten auf Erfolg sieht, sollte sich mit dem Sozialarbeiter der eigenen jüdischen Gemeinde beraten. »Sie wissen am besten, wie das Sozialamt vor Ort in der Regel in solchen Fällen verfährt«, sagt Kazwa.
Denn die Sozialämter reagieren hier unterschiedlich. Während einige die Fehlbeträge der vergangenen Jahre unter den Tisch fallen lassen und den Abzug erst jetzt geltend machen, verlangen andere die Rückzahlung des zu viel gezahlten Geldes. In diesem Falle empfiehlt Dalia Wissgott-Moneta, Sozialreferentin der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, die Erstattung als Ratenzahlung in möglichst kleinen Beträgen von etwa 10 Euro zu vereinbaren.
Doch eine Ideallösung gibt es nicht und erst recht keine einheitliche Antwort auf die dringende Frage: »Was soll ich ma-
chen?« Denn obwohl in diesem individuellen Handeln der Sozialämter auch Ungerechtigkeiten entstehen, warnt Wissgott-Moneta davor, in dieser Frage mit aller Macht eine einheitliche Lösung erzwingen zu wollen. »Das kann nur eine Verschlimmbesserung werden«, sagt sie. Eine individuelle Regelung mag zwar aufwendiger sein, aber für den Einzelnen möglicherweise weniger schmerzvoll.
Das sieht auch der Zentralrat der Juden in Deutschland. »Die berechtigten Rück-
forderungen mancher Sozialämter belaufen sich auf mehrere tausend Euro und führen zu Härten für die Zuwanderer«, erklärt Generalsekretär Stephan J. Kramer. Um diese so niedrig wie möglich zu halten, habe er bei einigen Sozialämtern vorgesprochen, um darauf hinzuwirken, dass eine »Ermessungsregelung« großzügig ausgelegt werde.
Darüber hinaus habe er dem russischen Botschafter in Deutschland die Bitte vorgetragen, zu prüfen, inwiefern man von russischen und den anderen Regierungen der ehemaligen Sowjetunion die Rentenbescheide so detailliert ausstellen könne, dass für die deutschen Behörden der Anteil an Altersrente und Entschädigungszahlung sichtbar wird.
Für Irina Kenigstaijn werden Erfolge der Verhandlungen zu spät kommen. Daher bleibt ihr in der momentanen Situation nur, sich mit der Sozialarbeiterin ihrer Gemeinde abzustimmen und im persönlichen Gespräch die beste Lösung für ihre Mutter zu suchen.
(Die Namen der Betroffenen wurden von der Redaktion geändert.)