von Wolfgang Benz
Im Herbst 1938 hatten sich für deutsche Juden aufgrund staatlich geplanter und verordneter Diskriminierungen die Existenzbedingungen drastisch verschlechtert. Dass es noch schlimmer kommen könnte, mochten viele nicht glauben. Andere waren aber überzeugt davon, dass die angekündigte Drohung einer »Lösung der Judenfrage« (wie immer sie aussehen würde) wahr gemacht würde. Jedoch glaubte niemand nach allem, was bereits geschehen war, an den »spontanen Volkszorn«, der angeblich am 9. November 1938 zum Ausbruch kam. Das Ereignis – eine Station auf dem Weg zum Völkermord – nannte der Volksmund damals »Reichskristallnacht«. Um dem Odium der Verharmlosung zu entgehen, prägten Nachgeborene den törichten Begriff »Reichspogromnacht«. Und der scheint sich einzubürgern, obwohl (oder weil) er Nazi-Nomenklatur nachempfindet und damit erst recht verharmlost.
Die »Reichskristallnacht« hatte eine dramatische Vorgeschichte und einen banalen Anlass. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im Frühjahr 1938 fürchtete die polnische Regierung die Rückkehr der Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland lebten. Die Einreise, das war in Warschau verfügt worden, sollte ab dem 31. Oktober 1938 nicht mehr ohne Weiteres möglich sein. Die Mehrzahl der etwa 70.000 Juden polnischer Herkunft wäre zu diesem Zeitpunkt staatenlos geworden. Und dann hätte die Reichsregierung in Berlin keine Möglichkeit mehr gehabt, die unerwünschten »Ostjuden« abzuschieben. In den letzten Oktobertagen begann daher die Gestapo mit der Deportation. Etwa 17.000 Juden, die seit langer Zeit in Deutschland und Österreich lebten, aber polnische Pässe hatten, wurden an die Grenze transportiert. Dort irrten sie umher, weil Polen sie nicht aufnehmen wollte.
In einem Lager im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen war auch die Familie Grynszpan aus Hannover gestrandet. Ein Sohn, der 17-jährige Herschel, lebte in Paris und war so der Deportation entgangen. Am 3. November erhielt er eine Postkarte seiner Schwester, die ihm das Schicksal der Familie schilderte. Herschel Gryn- szpan besorgte sich einen Revolver, begab sich zur Deutschen Botschaft und schoss dort den Legationssekretär Ernst vom Rath nieder. Er wollte mit der Tat gegen das brutale Vorgehen der Nationalsozialisten protestieren – und gab ihnen damit den Anlass, das Pogrom vom 9. November 1938 zu inszenieren.
Den Nationalsozialisten war die Tat des 17-Jährigen hochwillkommen, sie wurde zur Verschwörung des »Weltjudentums« gegen das Deutsche Reich emporstilisiert und diente dazu, die deutschen Juden aus allen sozialen und ökonomischen Bereichen auszugrenzen. Goebbels benutzte das Attentat zunächst für eine antisemitische Pressekampagne. Und als am Nachmittag des 9. November die Nachricht kam, dass Ernst vom Rath den Folgen des Anschlags erlegen war, zündete der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda nicht nur mit Wissen und Billigung des »Führers«, sondern von Hitler ausdrücklich ermuntert, die Lunte am Pulverfass.
Die Gelegenheit war überaus günstig: Die Führer der NSDAP waren wie jedes Jahr an diesem Tag in München versammelt, um des Hitlerputsches von 1923 zu gedenken. Im Alten Rathaus rief Goebbels in einer abendlichen Hasstirade zum Schlag gegen die Juden auf. Seine Zuhörer gaben die Botschaft sogleich an die heimischen SA-Stürme und an örtliche NSDAP-Größen weiter. Überall im Deutschen Reich machten sich Stunden später Schlägerkolonnen ans Werk, demolierten Schaufenster jüdischer Geschäfte, steckten die Synagogen in Brand, misshandelten Unschuldige, zerstörten und plünderten Wohnungen. Um die Mär vom »spontanen Volkszorn« aufrechtzuerhalten, erschienen die Täter meist in Räuberzivil; Ortsgruppenleiter der NSDAP und andere »Würdenträger« überwachten das Treiben an vielen Orten persönlich, während sich das Bürgertum angewidert vom Vandalismus oder einfach nur erschreckt, ängstlich und verstört im Hintergrund hielt. Die Feuerwehren taten ihre Pflicht – aber nur, wenn nichtjüdisches Eigentum betroffen war. Sie achteten darauf, dass die Flammen von den Synagogen nicht auf Nachbargebäude übergriffen. Die Raserei, die sich in den nächsten Tagen fortsetzte, ergriff schließlich auch solche, die mit den Zielen der Nationalsozialisten oder mit Politik überhaupt nichts im Sinn hatten. Die »Reichskristallnacht« wurde zum Ventil für niedere Instinkte, für Mord- und Zerstörungslust.
Einige artikulierten auch vorsichtig ihren Unmut über die Aktion. Die meisten taten dies freilich weniger aus Mitleid mit den Juden, sondern wegen der sinnlos vernichteten Sachwerte. Darin waren sich brave Bürger, die die Juden weniger geräuschvoll und ohne Beteiligung des Straßenpöbels aus der deutschen Gesellschaft entfernen wollten, mit Hermann Göring einig. Als Beauftragter für den Vierjahresplan hatte er die Funktion eines Superwirtschaftsministers des Dritten Reiches. In dieser Eigenschaft machte er Goebbels wegen der Inszenierung der Pogrome heftige Vorwürfe: Ihn schmerzten die materiellen Verluste, er kalkulierte die Rohstoffe und Devisen, die zur Behebung der Schä- den eingesetzt werden mussten und für die Aufrüstung fehlten.
Die Vernichtung von materiellen Werten beklagten auch viele Bürger, vor allem auf dem Land. Über Mitleid und Solidarität mit den Juden ist in den amtlichen Berichten aber nichts zu lesen. Vielmehr fällt auf, mit welcher Kaltschnäuzigkeit dort jüdische Todesopfer erwähnt werden. Das Bedauern über die vernichteten Güter war allemal größer. Ansonsten blieb man kühl und gelassen. Wie der Oberbürgermeister von Ingolstadt, der meldete: »Die Aktion gegen die Juden wurde rasch und ohne besondere Reibungen zum Abschluss gebracht. Im Verfolg dieser Maßnahme hat sich ein jüdisches Ehepaar in der Donau ertränkt.«
Bei den Brandstiftungen und Raubzügen, bei der Misshandlung und Verhöhnung der Juden blieb es nicht. In den Tagen nach dem 9. November wurden im ganzen Deutschen Reich etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in die KZs Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Was das für die Betroffenen bedeutete, ist trotz zahlreicher Berichte kaum darstellbar. Dass die Aktion auf einige Wochen begrenzt war, dass sie »nur« der Einschüchterung dienen und den Druck zur Auswanderung erhöhen sollte –all das wiegt wenig gegenüber der Katastrophe, die der Aufenthalt im KZ für die bürgerliche Existenz, für das Bewusstsein der Opfer bedeutete: Zerstörung ihrer bisherigen Lebensform.
Am 12. November wurde in Berlin aus Sicht der Machthaber Bilanz gezogen: 7.500 jüdische Geschäfte und fast alle Synagen waren zerstört worden. Nach neueren Forschungen sind mehr als 1.000 Synagogen und Gebetshäuser der Gewalt zum Opfer gefallen. Und geplündert wurde in der Schreckensnacht nach Kräften. In der Sitzung am 12. November legten die Nazis auch ihren weiteren Kurs gegenüber den Juden fest. Goebbels durfte in den folgenden Tagen und Wochen propagandistisch unterfüttern, was als Vollstreckung »des Volkswillens« deklariert wurde: zuerst die Enteignung, dann die Ghet- toisierung, schließlich die Deportation und Vernichtung der deutschen Juden, die nicht die Möglichkeit hatten, dem deutschen Herrschaftsbereich noch zu entkommen.
Die Enteignung der Juden war am 10. November schon beschlossene Sache, die vollständige »Arisierung« der deutschen Wirtschaft von Hitler entschieden. Um- stritten war aber noch, wer den Gewinn einstreichen durfte: der Staat oder die NSDAP. Göring, als Beauftragter für den Vierjahresplan, trug in der Sitzung vom 12. November den Sieg über den Reichspropagandaminister Goebbels davon, der die Kassen der Partei mit dem Geld der Juden hatte füllen wollen.
Einig waren sich die im Reichsluftfahrtministerium versammelten Minister und Beamten, dass die Juden nicht nur für die Schäden haften sollten, die beim Pogrom angerichtet wurden, sondern dass ihnen darüber hinaus eine »Buße« auferlegt wurde, über deren Höhe nicht lange diskutiert wurde: eine Milliarde Reichsmark, tatsächlich waren es dann 1,12 Milliarden.
Unmittelbar nach dem November-Pogrom begann die vollständige Entrechtung der Juden mit einer Sturzflut von Anordnungen und Erlassen, Befehlen und Verboten. Die physische Vernichtung bildete die letzte Station des Weges, der mit der Inszenierung der Ausschreitungen Ende 1938 bewusst und öffentlich eingeschlagen war.
Der Autor ist Historiker und leitet das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.