Iris Hanika balanciert in ihrem neuen Roman Das Eigentliche auf schmalem Grat. Ihr Protagonist Hans Frambach setzt sich in einer Art und Weise mit der deutschen Geschichte auseinander, die ein vermeintliches Tabu nach dem anderen berührt. Frambach arbeitet als Archivar im »Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung«. Dort ist er an zentraler Stelle staatstragend tätig, denn die Vergangenheitsbewirtschaftung ist Staatsziel – »das Eigentliche« der Existenz dieses von Hanika kafkaesk gezeichneten Gebildes, das Deutschland ist. »So war die Dunkelheit, aus der dieser Staat vor langer Zeit hervorgekrochen war, in das hellste Licht gestellt und zu seinem Eigentlichen erklärt worden, was nur logisch war, schließlich war es der Grund seiner Gründung. Es war das wirklich Eigentliche. Nur war es nicht mehr interessant, seit es auf dem Präsentierteller dargeboten wurde.«
Es ist immer dieser Hans, der da denkt und schlussfolgert. Er sieht das eigene Nachlassen der Betroffenheit als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Gestimmtheit. Das sei schrecklich, findet die Romanfigur. Aber dem Leser schwant schon hier, was wirklich schrecklich ist. Hans geht in Gedanken all die Posen durch, in die sich Gedenkprofis und Gedenklaien werfen, wenn es um Auschwitz geht. Sprachlich hat Hanika das mit großem Witz und Sinn für die logischen Rösselsprünge angestrengten Nachdenkens umgesetzt. Passagenweise meint man, einer intellektuelleren Version der Fernsehfigur Dittsche zu folgen. Da arbeitet sich jemand redlich ab am »großen Loch«: »Und nun strömen sie herbei von überall her alle, denn auch sie können das Loch in unserer Mitte nicht ertragen, und jeder bastelt ein Modell des Lochs und baut es zu mit großen Steinen und großen Eisenträgern oder auch mit großen Gesten und dann mit großen Betonklötzen.«
Der zwischen Aktendeckeln verdorrende Hans ist so sehr mit der Aufarbeitung der Schoa beschäftigt, oder vielmehr seiner eigenen ständigen inneren Neupositionierung, dass er außerhalb der Selbstreflexion gar kein richtiges Leben lebt – seiner Meinung nach. Die Analyse betreibt er genauso intensiv, wie er zwanghaft die Zahl der Buchstaben von Wörtern durch drei teilen muss. Schon vermisst der Endvierziger das Pathos seiner Jugend, als er noch voll Weltverbesserungsdrang keine U-Bahnfahrt absolvieren konnte, ohne Menschentransporte in Viehwaggons nachzuleiden.
Für Hans Frambachs platonische Freundin Graziela ist das Eigentliche ein wenig anders gestrickt. Die Beziehung zu ihrem Geliebten Joachim ist lustvoll darauf reduziert, als »ein Fleisch« »eigentlich zu sein«. Selbst das Archiv des Instituts für Vergangenheitsbewirtschaftung verfügt über »das Eigentliche«: einen Rechnerraum.
In ihrem Text montiert Hanika in beißender Satire und sich teilweise überschlagender Groteske deutsche Aufarbeitungsrituale. Dem Leser gönnt sie mitten im Text zweimal drei leere Seiten. Die kluge Autorin weiß, dass sie längst eigene Denkprozesse des Lesers in Gang gesetzt hat. Klarkommen muss er alleine damit. Am Ende entpuppt sich die Selbstbeobachtung als Entwicklungsroman. Graziela erkennt, zumindest zeitweise, dass die reine Fleischeslust nicht das Eigentliche ist. Und Hans, die graue Maus, klaut aus einem Nachlass, den er katalogisieren soll, zwei Bilder. Damit entreißt er die darauf abgebildete kleine Familie dem Verschwinden im kollektiven Gedächtnis. Dann leistet sich der daueraufarbeitende Mann im Bahnhof Friedrichstraße einen hysterischen Anfall. Befreiend. Sabine Pamperrien
Iris Hanika: Das Eigentliche. Roman. Droschl, Graz 2010, 176 S., 19 €
Literaturspezial