Partnerschaft

Die Formel der Liebe

Eines der zentralsten Themen der heutigen Gesellschaft ist die Liebe. Die meisten Schlager widmen sich dem Thema, viele Bücher werden darüber geschrieben, es wird kaum ein Film gedreht, der nicht eine Liebesgeschichte beinhaltet. Doch irgendwie scheint es nicht zu helfen. Von Liebe zu hö-
ren, zu sehen oder zu lesen ist das eine. Aber Liebe zu leben, das scheint etwas an-
deres zu sein. Zumindest langfristig be-
trachtet. Denken wir nur an die hohen Scheidungsraten, die immer höher werden. Und obwohl die meisten dieser Paare schwören könnten, dass sie sich am Beginn ihrer Beziehung wirklich geliebt haben und sich auch zum Zeitpunkt ihres Eheversprechens sehr gut kannten, viele sogar bereits über einen längeren Zeitraum miteinander gelebt haben, sehen wir leider, das am Ende die Trennung steht.
Und obwohl auch viele jüdische Fami-
lien bedauerlicherweise von diesem Problem betroffen sind, ist dabei ein Phänomen auszumachen: Die Scheidungsrate in orthodoxen Ehen ist extrem niedrig ge-
blieben. Und das, obwohl sich viele dieser Paare nur kurze Zeit vor der Heirat kennengelernt haben, und im seltensten Fall mehr als ein paar Monate miteinander ausgegangen sind. Sie haben kein Zusammenleben auf Probe gehabt, dennoch hält ihre Beziehung später. Woran kann das liegen? Könnte sich die traditionell-jüdische Vorstellung der Liebe von der Vorstellung, die uns von der Gesellschaft aufgezwungen wurde, unterscheiden?

Segnen Es gibt den Brauch, nach jedem Schabbatausgang beim Abendgebet einen Abschnitt aus der Tora zu lesen, der den Segensspruch enthält, den unser Vorvater Itzhak seinem Sohn Jaakow und somit auch dem ganzen jüdischen Volk gegeben hat. Der Abschnitt beginnt mit den Worten »Wajiten lecha«, »und Er (G’tt) wird dir ge-
ben«. Das »und« ist immer ein Verbindungswort. Eine Regel in der Tora besagt, dass stets, wenn ein Satz mit einem »und« anfängt, die Tora andeutet, das irgend etwas noch vor diesem »und« stehen müsste, was mit diesem Satz verbunden werden muss. Deswegen kommentiert Raschi: »Jiten wejachzor wejiten«, was in der Regel als »G’tt wird dir immer kontinuierlich ge-
ben« übersetzt wird. Doch diese Wörter von Raschi könnten auch ganz anders übersetzt werden: »Er wird dir geben, dann wegnehmen und dann wieder ge-
ben«. Doch was wäre die Bedeutung dieser Übersetzung? Wozu müsste jemand einem anderen irgendetwas geben, um es dann zu nehmen und später wiederzugeben?
Stellen wir uns einen König vor, der entschieden hat, dass es für seinen Sohn Zeit wird, den Palast zu verlassen, um etwas Eigenes aufzubauen. Nun hat der König die Wahl: Entweder gibt er dem Prinzen eine Million Taler und lässt ihn ziehen. Oder er gibt ihm nur 10.000 und sagt seinem Sohn, dass er jederzeit wieder um finanzielle Hilfe bitten könne, sobald dieses Geld ausgegeben ist. Natürlich wird jeder liebende Vater die zweite Variante wählen, denn somit wird nicht nur dasselbe erreicht, es wird auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn aufrechterhalten. Zudem wir der Vater immer in der Lage sein, über die Geschehnisse im Leben seines Sohnes zu wachen, um notfalls helfend eingreifen zu können. Dies entspricht dem Segen von Itzhak. Das jüdische Volk soll im ständigen Kontakt mit dem Allmächtigen bleiben. Um jedes Mal, wenn etwas fehlt, Ihn darum bitten zu können, und es auch zu bekommen.

Schätzen Die zweite Erklärung von diesem Satz wäre die folgende: Leider ist die menschliche Psyche so aufgebaut, dass wir erst dann beginnen etwas wirklich zu schätzen, nachdem wir es entweder verloren haben oder es uns selbst mit harter Arbeit wieder erarbeitet haben. Das war unserem Vorvater Yitzhak in seiner großen Weisheit bekannt. Und entsprechend hat er seinen Segen für seine Nachkommen formuliert. Es geht dabei um die Fähigkeit, uns selbst unsere Besitztümer zu erarbeiten und auch in der Lage zu sein, sie richtig schätzen zu können. Deswegen heißt es: »Er wird geben«. Es wird ein Geschenk als Inspiration für uns sein, das uns zeigt, das es so etwas geben kann. Und um uns eine Motivation zu geben, später dafür arbeiten zu wollen. Doch dann kommt »wejachzor«. Er nimmt uns das Geschenk, damit wir merken, wie wertvoll es für uns war. Wenn man sehr lange in einem Zug fährt, merkt man den Lärm des Zuges erst, nachdem er angehalten hat. Während der Fahrt ge-
wöhnt man sich so sehr an diesen Lärm, dass es einem erst durch die Ruhe des
nächsten Halts bewusst wird, dass das Ge-
räusch nicht mehr da ist. Genau so ist es mit unseren Besitztümern. Wir gewöhnen uns so sehr daran, dass wir sie erst richtig bemerken, wenn sie nicht mehr da sind. Deswegen werden sie uns von G’tt genommen. Doch dann kommt das eigentliche »wejiten«. Uns wird die Möglichkeit gegeben, uns diese Dinge wieder zu erarbeiten, um sie dann wirklich schätzen zu können.
Also lautet die Formel: Uns werden Dinge gegeben, um sie kennenzulernen. Dann werden sie uns genommen, damit wir auf sie aufmerksam werden und sie uns selbst wieder erarbeiten können. Und dann werden sie uns wieder gegeben, damit wir sie richtig schätzen können. Die Weisen sagen, dass falls eine Formel stimmt, sie überall einsetzbar sein muss. Dazu können wir ein Beispiel aus der jüdischen Geschichte betrachten, das dies noch mehr verdeutlicht.

Erkennen Wenn das Ziel des Auszugs aus Ägypten die Übergabe der Tora war, könnte man die Frage stellen, warum sie uns dann nicht sofort nach dem Auszug gegeben wurde. Wozu mussten wir 49 Ta-
ge auf dieses Geschenk warten? Wir kennen schon die Antwort: Am Anfang wurden uns sehr viele Wunder gezeigt, um uns vor Augen zu führen, dass wir das auserwählte Volk für G’tt und seine Tora sind. Doch danach wurde es still. 49 Tage in der Wüste haben wir keine Wunder mehr er-
lebt. Warum? Um die Möglichkeit zu ha-
ben, uns die Tora selbst zu erarbeiten, sie dann wirklich schätzen zu können. Und das ist die Zeit zwischen Pessach und Schawuot, die Omerzeit, in der wir an unseren Charaktereigenschaften arbeiten müssen, um zu besseren Menschen zu werden, um würdig zu sein, die Tora zu bekommen. Da-
nach wird uns am 50. Tag das größte Ge-
schenk übergeben, die Tora, das größte Wunder G’ttes, das wir uns diesmal selbst erarbeitet haben.

ErArbeiten Die Formel kann man auch auf unser alltägliches Leben übertragen. Jeder kann sich bestimmt an eine Inspiration erinnern, die er oder sie am ersten Schul- oder Arbeitstag hatte. Doch mit der Zeit ging sie uns irgendwie verloren, der Alltag kehrte ein, die Schule oder Arbeit wurde uns eher zur Last als zur Freude. Doch was wir verstehen müssen ist, dass dieser erste Tag mit seiner Inspiration uns als ein Geschenk von oben gegeben wurde. Jetzt, nachdem dieses Geschenk genommen wurde, liegt es ausschließlich an uns, uns diese Freude wieder zu erarbeiten. Denn die Schule und die Arbeit bleiben dieselbe, sie verändert sich nicht. Unsere Einstellung hat sich verändert.
Dasselbe gilt auch für der Liebe. Die meisten Filme mit einer romantischen Ge-
schichte zeigen als dramaturgischen Höhepunkt den ersten Kuss oder das Happy End, weil es dem Zuschauer so gut gefällt. Was uns leider nicht gezeigt wird, ist die Zeit danach, wenn die romantische Phase vorbei ist. Viele Paare werden durch die auftretenden Probleme und Auseinandersetzungen überrascht. Und da sie vom Fernsehen oder der Kino-Leinwand nichts anderes als die Romantik kennen, kommen sie zum Entschluss, dass der Partner »doch nicht der richtige« gewesen ist.
Doch wenn wir unsere Formel nutzen, können wir verstehen, dass es der normale Lauf der Dinge ist. Zuerst wird uns diese Inspiration als Geschenk gegeben. Doch danach nimmt man uns diese romantischen Gefühle und das ständige Kribbeln im Bauch. Das ist die Zeit, in der uns das alltägliche Leben begegnet. Doch gerade dort, wo so viele aufgeben, fängt unser Teil an der ganzen Beziehung erst richtig an. Erst jetzt können wir uns unser Glück selbst erarbeiten.
Und genau das ist es, was der Rabbiner der Braut und dem Bräutigam kurz vor der Hochzeit als Vorbereitung auf das gemeinsame Leben beigebracht wird: dass die wahre Liebe nur durch die alltägliche Ar-
beit an der Beziehung und sich selbst erreicht werden kann. Es ist die Formel der Tora für ein glückliches Leben zu zweit.

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