von Rabbiner Baruch Rabinowitz
Kaffee am Morgen ist mir heilig. Meinem Freund ist das Ausschlafen am Sonntag heilig, meinem Nachbarn die Ruhe zwischen eins und drei am Mittag. Auch in unserem Wochenabschnitt wird von Heiligkeit gesprochen. Es steht geschrieben: Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewiger euer Gott. Ein unkonkreteres Gebot kann man sich wohl kaum vorstellen. Wie sollen wir wie jemand sein, wenn wir uns doch von ihm kein Bild machen dürfen, keine feste Vorstellung davon, wer, wie und was Gott ist? Und wenn wir nicht wissen, was die Heiligkeit Gottes bedeutet, wie können wir sie imitieren und damit das Gebot erfüllen?
Das Wort für Heiligkeit auf Hebräisch ist »Kadosch«. Es bedeutet »zu unterscheiden« oder einfach »anders« zu sein. Heiligkeit ist interaktiv. Wir werden heilig, damit wir unsere Welt heiligen. Sie dient keinem Selbstzweck, sondern fließt, um alles lebendig und heilig zu machen.
Im Begriff »Heiligkeit« liegt auf den ersten Blick ein Widerspruch: sich zu trennen, um vereint zu sein. Um heilig zu leben, brauchen wir keine Hilfe von außen, keine Gegenstände oder Rituale. Es geht darum, sich zu öffnen, um das, womit man in Berührung kommt, besonders zu machen. Heiligkeit ist eine Leiter, die auf der Erde beginnt und im Himmel endet, denn es gibt immer Möglichkeiten für eine neue Steigerung. Heiligkeit ist ein Versuch, das Gute ins Besondere zu verwandeln.
Es gibt viele religiöse Angelegenheiten, die mit dem Wort Kadosch und ihrem Sinn eng in Verbindung stehen. So beginnen jeder Schabbat und alle Feiertage mit einem »Kiddusch«, einem Gebet über dem Wein, was eine Einweihung und Auszeichnung des besonderen Tages ist. Wir trennen den Schabbat von den anderen Tagen der Woche, um uns an diesem Tag ganz besonders mit dem Schöpfer, der Natur und unseren Geliebten zu vereinigen. Der Schabbat wird durch unsere Freude und Liebe zu einem ganz besonderen Tag. Schabbat ist anders und deswegen heilig.
Auch das Wort »Kidduschin« (Eheschließung) wird vom Wort »Kadosch« abgeleitet. Das Judentum erlaubt viele verschiedene Formen für eine Liebesbeziehung. Sex vor der Ehe war halachisch nie verboten (nicht zu verwechseln mit dem Sex außerhalb der Ehe). Eine unverbindliche Beziehung heißt auf Hebräisch »Pilgaschut« und ist halachisch nicht verboten. Trotzdem lädt das Judentum ein, die Heiligkeit auch in unser Liebesleben zu bringen. Durch Eheschließung macht man die Beziehung exklusiv, besonders und heilig. Erst durch diese Trennung von anderen Erfahrungen, die man vorher gemacht hat, kann man sich mit einer Person völlig vereinigen. Beziehung ist gut. Ehe ist heilig.
Eines der am häufigsten gesprochenen Gebete im Judentum hat auch mit der Heiligkeit unmittelbar zu tun. Es ist das »Kaddisch«, ein Gebet auf Aramäisch. Das Kaddisch ist vor allem als Trauergebet be- kannt, das für die Verstorbenen gesprochen wird. Der Inhalt hat jedoch weder mit dem Tod noch mit der Trauer zu tun. Das ganze Gebet ist ein einziges Lob an den König der Welt. Das Kaddisch bietet die Möglichkeit, sich teilweise von der Trauer zu trennen, um die Verbindung mit dem Leben wiederaufnehmen zu können. Die Todeserfahrung verändert uns. Sie öffnet uns die Möglichkeit, über unsere Werte nachzudenken, damit wir unsere kostbare Zeit nicht verlieren. Der richtige Moment, »Ich liebe dich« oder »Verzeih mir« zu sagen, ist immer jetzt. Denn irgendwann wird es kein Morgen mehr geben. Wir danken Gott, dass wir es lernen können, der Zeit und den Menschen, die uns wichtig sind, einen besonderen Platz im Leben zu geben und dadurch heilig werden zu lassen.
Zwei Buchstaben aus dem Wort Kadosch (Schin und Dalet) sind auch im Wort »Schaddai«, der Almächtige, zu finden. Die zwei Buchstaben bilden gleichfalls das Wort »Sched«, auf Deutsch »Geist«, »Dämon«, »Transzendenz«. Heiligkeit ist ein Geist, der alles erfüllt und verwandelt. Im Judentum steht Heiligkeit im Gegenteil zur Askese. Sie ist nicht statisch oder dogmatisch, sondern beweglich und frei. Im Unterschied zum christlichen Verständnis von Heiligkeit, die oft mit Reliquien verbunden ist, die die Menschen beeinflussen können, geht man im Judentum davon aus, dass es der Mensch ist, der mit seiner Energie und seinem Geist alles, womit er in Verbindung kommt, beeinflusst.
Heilig zu sein, ist aktiv. Es kommt aus der Tiefe der menschlichen Seele, die den Mut hat, die Besonderheiten anderer anzuerkennen und sie zu bewundern. Den Mut, mehr zu wagen. Eine solche Seele ist fähig, andere zu respektieren, sie ist groß genug, um im Herzen einen besonderen Platz für die anderen zu schaffen – an dem sie sich besonders fühlen können und dadurch geheiligt werden. Heilig zu leben, bedeutet, alles um sich herum besonders zu machen. Es ist die Fähigkeit, sich zu begeistern und staunen zu können, zu lieben und geliebt zu werden.
Auch der bekannte jüdische Sänger Leonard Cohen hat sich mit der Frage der Heiligkeit befasst. In seinem Buch Beautiful Losers schrieb er: »Wer ist ein Heiliger? Ein Heiliger ist jemand, der eine entfernte menschliche Möglichkeit erreicht hat. Ich denke, dass es etwas mit der Energie der Liebe zu tun hat. Ein Heiliger löst das Chaos nicht auf. Wenn er es tun könnte, hätte sich die Welt schon längst geändert. Ein Heiliger kann sogar das Chaos für sich selbst nicht auflösen. Es ist eine Art Gleichgewicht, das sein Ruhm ist. Er reitet die Triebe wie ein entkommener Ski. Sein Kurs ist die Liebkosung des Hügels. Seine Spur ist eine Zeichnung des Schnees in einem Moment seiner besonderen Einordnung mit dem Wind und den Felsen. Etwas in ihm liebt so die Welt, dass er sich den Gesetzen der Erdanziehung und des Zufalls übergibt. Weit davon entfernt, mit den Engeln zu fliegen, verfolgt er mit der Treue eines Seismographen den Zustand der festen blutigen Landschaft. Sein Haus ist gefährlich und begrenzt, aber er ist zu Hause in der Welt. Er liebt die feinen und die krummen Gestalten des menschlichen Herzens. Es ist gut, unter uns solche Männer, solche balancierenden Ungeheuer der Liebe zu haben.«
Achare Mot-Kedoschim, 3. B. M. 16,1 – 20,27