Justiz

Die Beweiskette

Der Gil Ofarim sitzt am zweiten Prozesstag im Saal des Landgerichts in Leipzig Foto: picture alliance/dpa

Als er den Saal des Landgerichts Leipzig betritt, blinzelt Gil Ofarim mürrisch ins Blitzlicht, als hätte man ihn gerade unsanft geweckt. Zehn Minuten lang dürfen die Kameras ihn an diesem Dienstagmorgen blenden, dann müssen sie verstaut werden.

Dieser Fall begann mit einem Video. Und er wendete sich mit weiteren Videos um 180 Grad. Am 4. Oktober 2021 filmte Gil Ofarim sich selbst auf den Stufen vor dem Westin Hotel und behauptete, ein Mitarbeiter habe ihn am Empfang aufgefordert, »seinen Stern wegzupacken«, sonst dürfe er nicht einchecken. Aber auch die Überwachungskameras des Hotels filmten ihn, und auf den Aufnahmen aus der Hotellobby ist Ofarims Kette mit Davidstern nicht zu sehen.

Die Staatsanwaltschaft geht inzwischen davon aus, dass Ofarims Aussagen über den vermeintlich antisemitischen Vorfall im Hotel erfunden sind. Nach monatelangen Ermittlungen hat sie Anklage gegen Ofarim wegen Verleumdung und Falschaussage erhoben.

KONTEXT Für die Öffentlichkeit ist nicht unerheblich, in welchen Kontext dieser Prozess fällt. Ein Jude ist angeklagt, darüber gelogen zu haben, Antisemitismus erfahren zu haben. Gleichzeitig erfahren Juden auf der ganzen Welt gerade eine reale, massive Welle des Antisemitismus. Für Gil Ofarim ist gerichtlich nachgewiesen, dass er seit seinem viralen Video mit Hass überzogen wurde. Auch wurde er körperlich angegriffen. Der Prozess findet unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt, Ofarim hat Polizeischutz. Wer in diesen Tagen in den sozialen Medien nach seinem Namen sucht, entdeckt in hundertfacher Variation die Karikatur eines lügenden Juden, ein uraltes antisemitisches Klischee. Eines, das auch im Propagandakrieg gegen Israel derzeit wieder hochgeholt wird, dem man die Massaker der Hamas nicht glaubt.

Rückblende in den Oktober 2021. Das Instagramvideo von Gil Ofarim über den angeblichen Antisemitismusvorfall geht innerhalb weniger Stunden viral. Noch am Tag der Veröffentlichung versammeln sich Demonstranten vor dem Westin in Leipzig. Vor der Synagoge, die keine fünf Minuten vom Hotel entfernt liegt, stehen plötzlich Journalisten. Die Gemeindemitglieder aber sind skeptisch: »Ich hatte das Gefühl, dass die Journalisten uns gar nicht richtig zuhören wollten«, erinnert sich ein Gemeindemitglied.

Während die Schlagzeilen immer lauter werden, wird einer immer stiller. Markus W. schildert am Dienstag vor Gericht die Tage, in denen er als angeblich antisemitischer Hotelmanager »Herr W.« bekannt wurde. Bereits am 5. Oktober habe er eine Morddrohung über seine Geschäftsmail erhalten.

Die Schlagzeilen werden immer lauter, einer wird immer stiller.

Er hätte sich kaum auf die Arbeit konzentrieren können, sei schließlich nach Hause gefahren, und wenig später an einen »sicheren Ort« gebracht worden, erzählt er. Das Hotel habe einen schwarzen Van organisiert, der ihn und seine Partnerin abgeholt habe. Bevor er einstieg, habe W. noch seinen Namen von der Klingel abgerissen. Lange habe er im Westin ohne Namensschild gearbeitet, bevor er das Hotel wechselte. Er werde nervös, wenn es um das Thema gehe. Manchmal könne er nicht schlafen.

Während Herr W. spricht, schaut Gil Ofarim den von ihm Beschuldigten die ganze Zeit an. Nur wenige Meter trennen die zwei Männer, deren beider Leben seit dem Oktober 2021 zum Albtraum geworden sind. Wenn stimmt, was die Staatsanwaltschaft vermutet, hat Gil Ofarim mit seinem Video nicht nur Herrn W., sondern auch sich selbst enormen Schaden zugefügt. Und riskiert nun sogar eine Freiheitsstrafe. Warum tut er das? Gibt es eine Möglichkeit, dass doch alles ganz anders war, als es nun scheint? Zehn Tage hat das Gericht für den Prozess bis zum 7. Dezember eingeplant, um diese Frage zu klären.

Ofarim trägt vor Gericht beinah die gleiche Kleidung wie in dem Video. Die gleichen Ketten, auch die mit dem großen silbernen Davidstern. Als wolle er unterstreichen, was er am Sonntag in einem Interview mit der »Welt« bezeugt hat: Er bleibt auch bei der gleichen Version seiner Geschichte. Herr W. habe ihn damals aufgefordert, seinen Stern »wegzupacken«. Am ersten Gerichtstag jedoch schweigt Ofarim. Dafür macht sein Verteidiger schon in seinem Eingangsstatement klar, dass für ihn hier »Aussage gegen Aussage« stehe – dass auf den Überwachungsvideos keine Kette zu sehen sei, bedeute nicht, dass kein antisemitischer Spruch gefallen sei.

VIDEOS Entscheidend für die Verhandlung werden wohl nur wenige Sekunden sein – die Zeit, in denen sich die zwei Männer am Abend des 4. Oktober am Check-in-Counter des Westin begegnen. Die Szene ist auf den Überwachungsvideos zu sehen. Nur Ton gibt es nicht. In der Version des Hotelmanagers hat Ofarim sich beschwert, dass andere Gäste in der langen Schlange vorgezogen wurden – und über das »Scheißhotel« geschimpft. Dann habe er damit gedroht, ein virales Video aufzunehmen, sobald er auf dem Zimmer sei.

Daraufhin habe Herr W. ihm das Anmeldeformular weggezogen und gesagt: »Dann werden Sie auch heute nicht unser Gast sein.« Nach einer kurzen Diskussion sei Ofarim gegangen – laut W. ohne Davidstern. Er habe damals auch nicht gewusst, wem er da gerade das Zimmer verweigere, sagte Herr W. vor Gericht. Der Mitarbeiter des Hotels habe also nicht wissen können, dass Ofarim Jude ist. Die Anwälte des Musikers hingegen könnten genau das bezweifeln.

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