Kosmopolitismus

Die Ausnahmen

von Natan Sznaider

Wir leben in finsteren Zeiten – Zeiten, die das jüdische Problem zum Allgemeinproblem werden lassen. Sozialwissenschaftler haben angesichts der neuen Barbarei einen schweren Stand: Unser Handwerkszeug taugt nicht viel, wenn es darum geht, die heutigen Gefahren zu verstehen. So drehen wir uns im Kreis, versuchen die Welt in alten Kategorien zu verstehen, die wir alle noch so fleißig gelernt haben. Ob es nun um Europa geht oder um die Welt, ob es sich um Kosmopolitismus oder Globalisierung handelt. Man erfreut sich an der Vision eines kosmopolitischen Europas, das die Grenzen sprengt, und wundert sich gleichzeitig über die Wiederkehr der Tradition, des Eigenen, des Lokalen, der Kultur.
»Den Juden als Nation muss man alles verweigern; als Individuen muss man ihnen alles zugestehen.« So hieß es in Frankreich nach der Französischen Revolution, und dieser Ausspruch wurde zum Inbegriff der gescheiterten jüdischen Assimilation in Europa. Denn letztendlich forderte er eine Konvertierung der Juden: Nur der Jude, der sich dem Prinzip der Staatsbürgerschaft unterwirft, wird der neue gute Jude sein. Juden als Kollektiv sind Relikt einer vergangenen Geschichte. Das ist die Botschaft der Aufklärung an die Juden, wie sie am deutlichsten Nathan der Weise in der Lessing’schen Ringparabel ausspricht: »Wie kann ich meinen Vätern weniger als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. Kann ich von dir verlangen, dass du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das Nämliche gilt von den Christen. Nicht?«
Der Jude Nathan wurde seiner partikularen Geschichte beraubt und damit konnte er in die Universalität der Menschheit eintreten – ein Projekt, das der Nationalsozialismus brutal unterlaufen hat. Aber dieses Projekt des europäischen Kosmopolitismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Angriff genommen. Die Versöhnung ehemaliger Feinde, die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und die gemeinsame Politik gegenüber dem Ostblock waren die konstituierenden Momente eines kosmopolitischen Europas mit universaler Mission, die in die Welt getragen werden sollte. Eine gemeinsame historische Erinnerung, die über die nationalstaatliche Erfahrung hinausgehen sollte, wurde zum Grundpfeiler des neuen Europa. Der Krieg als Schreckensereignis, in dem alle Menschen leiden, die Judenvernichtung eingebettet in die universale Erinnerung als Menschheitsverbrechen, in der alle Täter oder Opfer sein können, ja in gewissem Sinne die christliche Vereinnahmung der Judenvernichtung, in der Juden als Individuen, aber nicht als Nation gelten dürfen –all das trägt zu einem neuen kosmopolitischen Europa bei, in dem Juden als Juden mit ihren spezifischen Erinnerungen keinen Platz mehr einnehmen können.
Der heutige Kosmopolitismus sieht sich natürlich nicht mehr so homogen wie seine Vorgänger im 18. Jahrhundert, jedoch ist die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus noch nicht überwunden: Oft werden die eigenen Erfahrungen als universal eingestuft. Moralischer Universalismus stellt noch immer eines der begehrtesten europäischen Exportgüter dar, ohne dass dabei aber berücksichtigt wird, dass gerade die partikularen Erfahrungen der Kriegszeit der Grund dafür sind, dass die postnationale Konstellation heute als universale Botschaft in die Welt getragem werden kann. Das bewirkte, dass kosmopolitische Debatten unhistorisch geführt werden, ja geführt werden müssen, um partikulare Erfahrungen und Erinnerungen in eine universale Schablone einzupressen. In der Menschheit, so kann man sagen, gibt es keinen Ort für die Menschen in ihrer Besonderheit. Das Weiterbestehen und Weiterbestehenwollen von Partikularität wird nur noch als Rückschritt und Reaktion verstanden. Wenn man die europäische jüdische Erfahrung jedoch mit in die Analyse holt, werden Universalismus und Partikularismus, das Allgemeine und das Besondere

keine sich gegenseitig ausschließenden Begriffe mehr sein, sondern gelebte Praxis.
Das ist historisch schwierig, denn diese gelebte Praxis, die jüdische kulturelle Existenz in Europa, gibt es trotz der physischen Anwesenheit von Juden in Europa nicht mehr. Der gelebte jüdische Pluralismus existiert heute fast nur noch in den USA und in Israel, wo die meisten Überlebenden des Holocaust ihr Leben wieder aufnahmen. In Europa blieb kaum noch die Erinnerung zurück. Europa wurde für Juden zum schwarzen Loch, zu einem nicht definierbaren »Dort«. Deutschland und Europa lebten zwar weiter, die jüdische Kultur jedoch hat dort nicht überlebt und findet nur noch im virtuellen Raum statt.
Damit wird auch die Beziehung zwischen Erinnerung und Geschichte neu geschrieben. Es geht nicht mehr um Nationalgeschichte, sondern um Erinnerungsge- schichte. In der Erinnerung können mehrere Geschichten – und damit auch Universalismus und Partikularismus, das Allgemeine und das Besondere – gleichzeitig existie- ren. Dies ist vor allem bei der Erinnerung an den Holocaust der Fall: War es ein Menschheitsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Juden? Ist das Verbrechen mit anderen vergleichbar? Muss eine besondere Sprache gesprochen werden, um über die Judenvernichtung zu reden? Sind dies moralische oder historische Debatten? Auf der einen Seite hat die Judenvernichtung Begrifflichkeiten der Aufklärung herausgefordert, ja sogar den Begriff der »Dialektik der Aufklärung« mitgetragen. Auf der anderen Seite, fast schon auf paradoxe Weise, wurde die Judenvernichtung zur Quelle nicht nur der Kritik am Universalismus, sondern auch seiner Erfüllung durch Menschenrechte und Völkermordprävention.
Eine zentrale Frage, die sich hierbei stellt, lautet: Gibt es universalistische Mindestvorgaben, auf die man sich einigen kann, ohne partikularistische Mindestvorgaben aufgeben zu müssen? Gerade jüdische Intellektuelle mussten diese Fragen nach der Schoa für sich neu verhandeln. Sie taten das sowohl untereinander als auch in Auseinandersetzung

mit ihrer nichtjüdischen Umwelt. Die Diskussion drehte sich oft um die europäische Vergangenheit und darum, wie die jüdisch-europäische Vergangenheit in Israel und in den USA weitergelebt werden könnte. Dabei stand jedoch nicht nur das Debattieren im Vordergrund. Vielmehr waren europäische jüdische Intellektuelle auch praktisch an einem Projekt beteiligt, in welchem sie von den Nazis beschlagnahmte jüdische Kulturgüter von Deutschland und Europa nach Israel oder in die USA schafften. Man kann sagen, dass diese jüdischen Intellektuellen die Spannung zwischen dem Universalen und dem Partikularen aufrechterhalten und außerhalb Europas weiterleben wollten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten und Probleme sowie ihre Unfähigkeit, weder ihre universalistischen Träume noch ihre ethnische Identität aufgeben zu wollen, waren aber nicht das Resultat von traumatischer Inkonsequenz und Exil, sondern stellten Überlegungen dar, die noch für heutige kosmopolitische Debatten hoch relevant sind – sie konstituieren diese geradezu.
Kosmopolitismus ist nicht nur ein nobles Ideal, das von menschlicher Größe ausgeht, sondern eine klare Herausforderung an unser Leben. Es geht darum, wie man nach der Katastrophe weiterleben kann. Wenn Kosmopolitismus in irgendeiner Form überhaupt Sinn macht, dann nur, wenn sowohl das Allgemeine als auch das Besondere bewahrt bleiben, ohne dass man Gefahr läuft, das eine auf das andere zu verkürzen. Es waren gerade jüdische Intellektuelle, die diese neue nach-aufklärerische Form des Kosmopolitismus entwickelt haben. Sie mussten dies tun, um weiterzuleben. Und sie taten es im Widerstreit mit ihrer Umwelt. Dieser neue Kosmopolitismus trägt die Tradition des alten und noblen Begriffs weiter, doch er entstand nach 1945 in der Auseinandersetzung mit der Katastrophe. Die allgemeine Menschen-

rechtserklärung von 1948 ist nur ein Teil davon. Wenn sie in der Präambel davon ausging, dass »die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen«, dann war die in der Erinnerung noch frische Erfahrung der Katastrophe mitbestimmend für das kosmopoliti- sche Grundrecht auf Leben. Fast gleichzeitig heißt es in der israelischen Unabhängigkeitserklärung: »Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach und in Europa Millionen von Juden vernichtete, bewies unwiderleglich aufs Neue, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muss, in einem Staat, dessen Pforten jedem Juden offenstehen, und der dem jüdischen Volk den Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie sichert.« Hier findet sich dieselbe Katastrophe, jedoch mit anderen Konsequenzen, die heute schon fast als sich wechselseitig ausschließende betrachtet werden. Doch diese Schlussfolgerungen sind nicht die einzigen, die aus der Katastrophe gezogen werden können. Universalismus und Partikularismus können gleichzeitig existieren. Unter anderem wurde dies von der jüdischen Intellektuellen Hannah Arendt gedacht, die in ihren Auseinandersetzungen mit der jüdischen und nicht-jüdischen Umwelt beide Prinzipien zu vereinen suchte. Wie Kant wuchs Arendt in Königsberg auf. Die jüdische Gemeinschaft dort bestand aus orthodoxen Juden, aus Juden, die sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens verstanden, aus Zionisten und aus radikalen Sozialisten. Es gab dort Juden, die aus Osteuropa kamen, und solche, die dort seit Jahrhunderten lebten. Es gab zudem getaufte Juden. Auch für Arendts Mutter war es klar, dass sie in Königsberg als Jüdin lebte. Hier lernte Arendt durch ihre eigene Existenz die Pluralität der jüdischen Existenz an der Schnittselle zwischen West- und Osteuropa kennen.
Arendt versuchte, eine Form des Liberalismus zu entwickeln, der individuelle Freiheit und kulturelle Einbettung widerspruchsfrei integrieren konnte. »Nur in- nerhalb eines Volkes kann ein Mensch als Mensch unter Menschen leben – wenn er nicht vor Entkräftung sterben will«, schrieb sie 1944 in ihrer Schlussbemerkung zu einem Essay über Kafka. Arendt sah hier den Schlüssel zur verborgenen jüdischen Tradition und hat zeitlebens versucht, auch so zu leben. Sie hat damit die Anstrengung unternommen, den Kosmopolitismus vom Individualismus zu befreien und an das Partikulare anzubinden. Für Juden war dies lebensnotwendig. Es ist daher entscheidend, kosmopolitische Debatten historisch einzubetten und zu verankern. Das gilt gerade für Diskussionen über kosmopolitische Gerechtigkeit, die über europäische Ansätze hinausgehen wollen und in denen es auch um die »Tradition der Unterdrückten« geht. Jüdische Stimmen sind daher historisch und theoretisch notwendig – und werden durch die Erinnerung erweckt. Die Rekonstruktion dieser Debatten dient dabei nicht nur antiquarischen Zwecken, sondern stellt den Versuch dar, eine kosmopolitische Theorie durch Erfahrung zu untermauern.
Die Zeit direkt nach dem Krieg ist der entscheidende historische Moment. Dies war die Zeit, in der die Grundlagen des neuen Europa aus Trümmern entstanden – die Geburtsstunde des kosmopolitischen Europa beginnt mit der Kapitulation Deutschlands. Doch war dies auch die Zeit, in der sich das jüdische Gedächtnis neu formierte und in der jüdische Intellektuelle ihr Verhältnis zu Europa neu zu definieren hatten. In just dieser Zeit hat eine Gruppe jüdischer Intellektueller die letzten Überbleibsel jüdischer Kultur aus Europa herausgeschafft, um ihnen in Israel und in den USA eine neue Heimat zu geben.

Der Autor ist Soziologe in Tel Aviv. Der Text ist die überarbeitete Kurzfassung der Einleitung seines im Verlag transcript erschienenen Buches »Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive« (153 Seiten, 16,80 Euro).

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