Wenige Begriffe sind so eng mit dem jüdischen Volk verbunden wie der vom »auserwählten Volk«. Die Einzigartigkeit wird in der Tora ständig wiederholt. Mal werden wir »Königreich der Priester«, mal »heilige Nation« ge-
nannt. Wir sind »Mein besonderer Schatz unter den Nationen« und »Mein Sohn, mein erstgeborener Sohn Israel«. Unsere Mühsal wird mannigfach sein, doch wurde uns das Versprechen gegeben, dass G’tt uns niemals völlig verlassen wird.
Ein ausgeprägter Sinn für Abgrenzung hat die Juden als Volk seit frühester Zeit ge-
prägt. Griechische und römische Historiker der Antike berichten von der Abneigung der Juden, sich frei mit anderen Völkern zu mischen, von ihrer strikten Endogamie – und sie verachteten die Juden dafür.
Bis in unsere Tage war die Stammesverbundenheit der Juden immer wieder ein Thema für Antisemiten – während andere uns genau deswegen angriffen, dass wir angeblich versuchten, in jeden Bereich der nichtjüdischen Gesellschaft einzudringen. Antisemiten hegelianischer Ausrichtung stellen zwischen den beiden Behauptungen eine Synthese her: Juden versuchen überall einzudringen, um ihre Gruppeninteressen zu fördern.
Diejenigen, die Israel der Kriegsverbrechen bezichtigen, führen diese »Verbrechen« häufig auf einen vermeintlichen jüdischen Glaubenssatz zurück, nur das Leben der Juden sei wertvoll, und nichtjüdisches Blut dürfe massenhaft vergossen werden. In Wirklichkeit hat es in der Geschichte noch nie eine Armee gegeben, die so viel eigenes Blut vergossen hat, um die Zivilisten auf Feindesseite zu schonen, wie Zahal, die israelischen Verteidigungskräfte.
Trennung Einst führte die Idee, die Ju-
den seien ein von G’tt besonders erwähltes Volk, dazu, dass wir uns von den anderen absonderten. Und die anderen brachte sie dazu, uns dafür zu hassen. Heutzutage trennt sie eher die Juden untereinander. Es gibt keine Behauptung, die nichtreligiösen Juden weniger behagt als das Beharren darauf, die Juden seien die Auserwählten G’ttes. Vor etwa 15 Jahren veranstaltete das Commentary Magazine ein Symposium jüdischer Relgionsgelehrter, die alle drei sogenannten Strömungen des Judentums vertraten. Von den nichtorthodoxen Teilnehmern war kaum einer bereit, die Vorstellung einer jüdischen Auserwähltheit im Brustton der Überzeugung zu bejahen, ganz gleich wie der Begriff definiert wurde.
Mein Kollege Amotz Asael sprach vielen Menschen aus dem Herzen, als er vor einigen Jahren schrieb: »Die Kosten des Auserwähltseins waren immer viel höher als der Nutzen.« Für Amotz bestand das Problem nicht so sehr im Wesen unserer Übereinkunft mit G’tt, sondern eben in der Überzeugung, wir seien Sein Auserwähltes Volk, wie der Titel seines Aufsatzes nahelegt: Sind wir auserwählt?
Fundamentalistische Christen haben weit weniger Probleme mit dem Status der Juden als auserwähltes Volk als die nichtorthodoxen Juden. Für Letztere steht der Begriff zu sehr im Widerspruch zu den Ideen der Gleichheit in modernen, liberalen Gesellschaften. Gewiss gibt es Juden, die stolz darauf sind, wie beeindruckend überproportional der Anteil von Juden an den Nobelpreisträgern in den Naturwissenschaften, Medizin und den Wirtschaftswissenschaften ist. Dieser ethnische Stolz hat aber keinerlei Einfluss auf das Verhalten –die Entscheidung etwa, eine Mischehe einzugehen. Wenn es nur um die geistigen Fähigkeiten geht, so gibt es mehr als genug hochintelligente Nichtjuden, mit denen man den eigenen Genpool (abzüglich der genetisch bedingten Krankheiten!) bewahren kann.
Der Kontrast zwischen nichtorthodoxen Juden und orthodoxen Juden in diesem Punkt könnte kaum größer sein. Auf einer Konferenz des europäischen Agudath Israel im vergangenen Jahr wurde mir plötzlich klar, dass praktisch jeder Redebeitrag von der Annahme ausging, alles, was jeder einzelne Jude macht, sei von kosmischer Be-
deutung. Geschichten von Baalei Teschuwa, also von denen, die zum Judentum zurück-gekehrt sind, kommen beispielsweise un-
weigerlich zu dem Schluss: Seht, wie weit G’ttes Bemühungen gehen, um eine einzige jüdische Seele dazu zu bringen, Ihn zu er-
kennen. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie amüsant ein Jiddisch sprechender Nichtjude es finden würde, dass diese kleine Gruppe von Männern in schwarzen Mänteln und sittsam gekleideter Frauen absolut davon überzeugt waren, sie stünden im Zentrum der g’ttlichen Weltplanung.
verantwortung Der fest verankerte Glaube an ihre Stellung im absoluten Mit-
telpunkt ist die Basis für das ausgeprägte Gefühl, füreinander Verantwortung zu tragen, das die Juden stets ausgezeichnet hat. Es ist der Verlust dieser Überzeugung, der den rapide schwindenden Sinn für gegenseitige Verantwortung erklärt. Weniger als die Hälfte amerikanisch-jüdischer Erwachsener unter 35 Jahren beantwortete die Frage: »Haben Juden weltweit irgendeine be-
sondere Verantwortung füreinander?« mit »Ja«. Wenn es am jüdischen Volk nichts Be-
sonderes gibt, warum sollten junge Juden mehr Sorge für einen anderen Juden tragen als für irgendeine andere Person? Ist es nicht moralisch höherstehend, eine universalistische Liebe zu allen Menschen zu hegen, eine Liebe, die keine Unterschiede macht? Es ist auch entschieden leichter.
Es gibt einen Aspekt jüdischer Einzigartigkeit, über den sich alle einig sind. Die Tora gehört dem jüdischen Volk. Kein an-
deres Volk hat jemals die ganze Mannigfaltigkeit seiner Gebote als so verpflichtend für sich angesehen wie wir. Darin liegt die Erklärung, warum es nichtorthodoxen Ju-
den so schwerfällt, die Idee vom auserwählten Volk zu akzeptieren: Sie haben so wenig Verbindung zur Tora selbst.
Ein Jude wird die Erfahrung machen, wie sein Selbstverständnis als Mitglied eines einzigartigen Volkes jedes Mal aufs Neue gestärkt wird, wenn er eine Mizwa ausübt. Doch die Befolgung der Gebote an sich reicht nicht aus. Denn, um es in den Worten von Montesquieu zu sagen, jede Nation hat ihre eigenen, einzigartigen Gesetze.
Torastudium Das intensivste Bewusstsein, auserwählt zu sein, ist die Folge der leidenschaftlichen Hingabe an das Studium der Tora. Es ist kein Zufall, dass wir den Segen sprechen: »Der uns von allen Nationen auserwählt hat«, bevor wir uns dem täglichen Studium der Schrift oder der Lesung aus der Torarolle zuwenden. Jeder Aspekt des Jeschiwastudiums stärkt die Idee, dass das Torastudium höher steht als jede andere menschliche Aktivität.
In seinem Buch Der Weg G’ttes schreibt Rabbi Moshe Chaim Luzzato, das Torastudium unterscheide sich qualitativ vom Studium jeglicher anderen Wissenschaft da-
durch, dass es über die Kraft verfüge, so-
wohl die Welt als auch den Studierenden zu verwandeln. In Nefesh HaChaim, seinen klassischen Ausführungen zum Ideal eines Torastudiums um seiner selbst willen, stellt Rabbi Chaim Volozhin fest, das Universum würde zum Zustand seines ursprünglichen Nichts zurückkehren, würde das Torastudium auch nur für einen einzigen Augenblick ganz und gar aufhören. Durch das Lernen der Schrift halte man fest am g’tt-
lichen Willen, schrieb er, denn Tora ist, in den Worten des Sohar, die Blaupause, nach der G’tt die Welt erschuf.
Wer diese Ideen wahrhaftig auf seine eigenen Studien überträgt, zweifelt nicht daran, dass die Annahme der Tora durch die Juden das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte war und dass die Juden auserwählt sind, der ganzen Welt G’tt zu verkünden. Ohne diese Erfahrung einer leiden-
denschaftlichen Verbindung zur Tora klingen alle Behauptungen unsererseits, wir seien auserwählt, nur hohl.