von David A. Harris
Wann die sowjetischen Juden zu neuem Selbstbewusstsein gelangten, lässt sich nicht mehr so genau sagen. Aber 1967 scheint ein recht passendes Datum zu sein. Israels Blitzsieg im Sechstagekrieg vor 40 Jahren war wie ein Weckruf für die zwei oder drei Millionen Juden in der UdSSR. Israel hatte sich nicht nur gegen die arabischen Angreifer behauptet, sondern auch gegen die sowjetischen Waffen, die sie benutzt hatten. In den darauffolgenden Jahren begannen die Juden überall in dem riesigen Sowjetreich, mit den beschränkten Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, ihre Geschichte, ihre Kultur und ihren Glauben zu erforschen.
Bis 1967 waren die sowjetischen Führer überzeugt, dass ihre jahrzehntelange Politik des kulturellen Genozids an den Juden erfolgreich sein würde. Nur noch wenige Sy-nagogen waren übrig. Die UdSSR brach ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, Kontakte zwischen den sowjetischen Juden und ihren Verwandten im Ausland wurden nahezu unmöglich. Dass sich dennoch eine selbstbewusste Judenheit in der Sowjetunion bildete, scheint unter diesen Umständen fast wie ein Wunder. Die UdSSR war schließlich eine geschlossene Gesellschaft. Es war schwer, die dort lebenden Juden zu erreichen. Selbst wenn das gelungen wäre – hätte man sie damit nicht in Gefahr gebracht? Jene Juden, die nach 1967 ihre Rechte einforderten, waren mutige Einzelne, die die Staatsmacht herausforderten. Überwachung, Bedrohung, Entlassungen, Gefängnis, inneres Exil und stete Unsicherheit waren die Folgen.
Keiner von diesen unerschrockenen sowjetischen Juden und ihren Unterstützern konnte sich am Anfang vorstellen, dass sie damals einen der beeindruckendsten und erfolgreichsten politischen Kämpfe der modernen Geschichte auf den Weg brachten. Wer hätte vorhersagen können, dass diese wenigen Juden, die ihr Leben aufs Spiel setzten, sich zu einer Massenbewegung auswachsen würden, die die Emigration von mehr als einer Million Menschen nach Israel zur Folge hatte? Oder dass Deutschland durch die Einwanderung aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten die am schnellsten wachsende jüdische Gemeinschaft der Welt bekommen und die USA mehr als 500.000 sowjetische Juden aufnehmen würden?
Für die Aktivisten der Auswanderungsbewegung ging es nie einfach nur um Menschenrechte – es war eine Rettungsaktion, im wörtlichen wie im spirituellen Sinn. Es ging darum, die Juden hinter dem Eisernen Vorhang wieder mit der jüdischen Welt und der jüdischen Seele zu vereinigen. Es ging um das Aufspüren der Gemeinsamkeiten, die das jüdische Volk verbinden. Auf diesem Weg wurden viele Fortschritte gemacht, aber einiges bleibt noch zu tun.
Natürlich gab es auch Hindernisse auf dem Weg – nicht nur von Seiten der sow-jetischen Machthaber. Es gab erbitterte Auseinandersetzungen darüber, in welches Land man auswandern sollte. Israel wollte verständlicherweise so viele Juden wie möglich anwerben, aber auch die USA – mit Unterstützung zahlreicher amerikanisch-jüdischer Gruppen – reichten den Neueinwanderern die Hand. Dort haben Juden aus der Sowjetunion inzwischen große Bedeutung erlangt. Nicht nur sind viele von ihnen beruflich sehr erfolgreich, sie sind auch eine wichtige Stimme für die Verteidigung Israels und im Kampf gegen Antisemitismus.
Dass viele sowjetische Juden nach Deutschland gingen, sorgte bei manchen für Stirnrunzeln. Und doch kamen weit mehr als Hunderttausend. Unterstützt wurden sie von allen deutschen Regierungen, weil ihnen daran gelegen war, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder aufblühte. Damit ging eine große Herausfor- derung einher: Wie kann eine so kleine jüdische Gemeinschaft eine so hohe Zahl von Migranten integrieren, die ein Mehrfaches ihrer eigenen Größe beträgt? Und wie kommen die beiden Gruppen miteinander zurecht, wer passt sich wem an? Nur mit einem leidenschaftlichen Eintreten für die jüdische Einheit kann derartigen Herausforderungen erfolgreich begegnet werden. Es bleibt gar keine andere Wahl. Die Zukunft der Juden, ob in Deutschland, Amerika oder anderswo außerhalb Israels, steht und fällt mit offenen und lebendigen jüdischen Gemeinden, die optimistisch nach vorne blicken.
Das ist vielleicht die vorrangige Lehre, die sich aus den Erfahrungen der sowjetischen Juden ziehen lässt: Optimismus. Am Anfang, 1967, sprach fast alles gegen einen Erfolg. Aber nicht zum ersten Mal bewiesen Juden, dass Mut, Ausdauer, Glaube und – nicht zuletzt – ein gemeinschaftliches Ziel Wunder vollbringen können. Das Echo dieses Wunders ist noch heute zu vernehmen: in den zahlreichen Impulsen, die von russischen Juden in Israel und überall auf der Welt ausgehen, nicht zu vergessen in der wiedererstandenen – und pulsierenden – jüdischen Präsenz auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion.
Wer zu jung ist, um diese Geschichte miterlebt zu haben, sollte sie studieren – und sich davon inspirieren lassen. Diejenigen, die von Anfang an dabei waren, sind die lebendige Erinnerung daran, dass für eine gute Sache alles möglich werden kann.
Der Autor ist geschäftsführender Direktor des American Jewish Committee.