Meinung

Höre Israel!

Deutschland gut. Israel böse. Die neue Regierung kommt vielen Deutschen gerade recht, um alte Vorurteile zu bestätigen

von Sarah Cohen-Fantl  15.01.2023 10:51 Uhr

Sarah Cohen-Fantl Foto: privat

Deutschland gut. Israel böse. Die neue Regierung kommt vielen Deutschen gerade recht, um alte Vorurteile zu bestätigen

von Sarah Cohen-Fantl  15.01.2023 10:51 Uhr

Während ich zwischen den Supermarktregalen hin und her hetze, dringen plötzlich die Worte der Nachrichtensprecherin durch das Gewusel direkt in mein Ohr: »In Israel …« Ich werde hellhörig, es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass meine Zweitheimat im deutschen Radio genannt wird – es sei denn, es handelt sich um Kritik an Israel. Was quasi immer der Fall ist.

Schnell eile ich drei Schritte weiter den Gang hinunter, um mich unter den Lautsprecher zu stellen. Die Stimme fährt fort: »… wird die neue Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu vereidigt. Experten sprechen von der rechtesten und ultrareligiösesten Regierung aller Zeiten, die zu Recht als umstritten gilt.« Achselzuckend mustere ich die Avocados – alles wie immer in Deutschland.

dauerschleife Keine Sorge, dies wird kein Artikel darüber, wie gut oder schlecht die neue Regierung in Israel ist. Es ist tatsächlich auch ganz egal, wie meine persönliche Meinung dazu ausfällt. Viele Deutsche um mich herum haben ohnehin die Deutungshoheit über das, was in Israel passiert – und der lassen sie nur allzu gern ungehemmt und in Dauerschleife freien Lauf.

Was für viele Menschen seit Jahrzehnten einer der kompliziertesten Konflikte dieser Welt ist, ist für etliche Deutsche ganz einfach.

Als ich im Mai 2021 im Bunker in Tel Aviv Schutz vor den Raketenangriffen der Hamas suchte, schwanger und mit Kleinkind auf dem Arm, und unweit von uns ein sechsjähriger Junge getötet wurde, erhielt ich in den sozialen Medien folgende Nachricht von einer nichtjüdischen Deutschen: »Das geschieht euch ganz recht, genau das habt ihr verdient. In Wahrheit seid ihr die Nazis.« Kein Einzelfall. Weitere Posts von diversen Bio-Deutschen besagten, dass Israel ein Apartheidstaat sei, forderten »Free Gaza« und rekapitulierten den Klassiker »From the River to the Sea …«.

Was für viele Menschen seit Jahrzehnten einer der kompliziertesten Konflikte dieser Welt ist, ist für etliche Deutsche ganz einfach: Israel ist böse. Israel ist schuldig. Israel muss weg. Dann sind alle Probleme gelöst. Da kommt die neue Regierung um Premier Netanjahu, die tatsächlich Streitpunkte bietet, gerade recht.

timeline Auf Twitter habe ich mich in den vergangenen Wochen bewusst zurückgezogen, weil meine Timeline überflutet wird, mit Menschen, die antisemitische Tweets posten. Ja, das Existenzrecht Israels anzuzweifeln, ganz egal, wie fatal man die neue und demokratisch gewählte israelische Regierung auch findet, ist Antisemitismus. Doch es scheint, dass man jetzt so etwas wie einen Joker in der Hand hält, endlich lässt sich ein Israel-ist-eben-doch-ein-Apartheidstaat-Ass aus dem Ärmel ziehen.

Auch wenn die meisten es nicht zugeben werden: Israel steht stellvertretend für Juden.

Egal, welche faktisch belegbaren Argumente ich aufzähle, es endet immer damit, dass Israel jetzt sein wahres – rassistisches – Gesicht gezeigt hätte. Dass seit der Vereidigung der neuen Regierung Zehntausende jüdische und arabische Israelis gemeinsam auf die Straße gehen und dagegen demonstrieren, darüber wird geschwiegen. Das offenbart, wie so oft, den klassischen Doppelstandard. (Ein weiteres Anzeichen für Antisemitismus.)

Rückblick: »Wir werden sie jagen, Angela Merkel oder wen auch immer, und wir werden uns unser Land zurückholen«, schreit AfD-Parteichef Gauland in Berlin vor Journalisten. Es ist September 2017, als ich für ein paar Jahre nach Israel ging. Den Abschied macht Deutschland mir ein bisschen leichter, als die ultrarechte »Alternative für Deutschland« mit 13 Prozent in den Bundestag gewählt wird. Eine Partei, die durch Dutzende Aussagen, wie die NS-Zeit sei bloß ein »Vogelschiss«, und es brauche einen »Schlussstrich«, für Aufsehen sorgt.

schlussstrich Ja, diesen Schlussstrich brauchen die Deutschen wirklich dringend. So dringend, dass man sich, anstatt auf den wachsenden Antisemitismus und die Stärkung der Populisten im eigenen Land, dann doch besser auf die Probleme in dem Land stürzt, das der Grund für das schlechte Gewissen ist. Endlich ist der Tag gekommen, an dem man die Rollen tauschen kann.

Was mich am meisten irritiert: Die letzte Regierung in Israel war das Gegenteil der jetzigen. Links, liberal, mit großem Frauenanteil und – aufgepasst – einer arabischen Partei. Anstatt das zu feiern oder zumindest positiv bis wertfrei anzuerkennen, suchte die woke deutsche Bubble auch hier ständig nur nach Argumenten, was alles schiefläuft im »Apartheidstaat« – ganz anders als im perfekten Deutschland natürlich.

Viel wichtiger wäre es doch, anzuerkennen, dass sich weltweit immer mehr Menschen den Rechten zuwenden.

Viel wichtiger wäre es doch, anzuerkennen, dass sich weltweit immer mehr Menschen den Rechten zuwenden. Ein Blick etwa nach Italien, Ungarn und in die USA reicht, um zu verstehen, dass die neue israelische Regierung kein Einzelfall ist.

judenhass Doch das Verhalten vieler Deutscher, die das zum Anlass nehmen, ein ganzes Land, dessen Volk sie vor noch nicht allzu langer Zeit zur Hälfte ausgelöscht haben, zu denunzieren, um sich nicht mit den Fehlern der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzen zu müssen, ist erbärmlich und führt zu nichts, außer zu noch mehr Judenhass auf deutschen Straßen.

Auch wenn die meisten es nicht zugeben werden: Israel steht stellvertretend für Juden, und wenn Israel (der Jude) böse ist, dann kann das, was vor rund 80 Jahren passiert ist, ja nicht so schlimm gewesen sein. Im Grunde heißt das: Klappe halten und brav nicken, so mag man seinen »guten« Juden. Deutschland gut, Israel böse. Ende gut, alles gut.

Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.

Hannover

Biller und Gneuß erhalten Niedersächsischen Literaturpreis

Der Nicolas-Born-Preis wird seit dem Jahr 2000 zu Ehren des Schriftstellers Nicolas Born (1937-1979) verliehen

 20.11.2024

Medien

Ausweitung der Kampfzone

Die israelfeindlichen Täter haben die »NZZ« ganz bewusst zum Abschuss freigegeben. Ein Kommentar

von Nicole Dreyfus  19.11.2024

Ehrung

Josef Schuster erhält Ehrendoktorwürde der Uni Würzburg

Seine Alma Mater ehrt ihn für seine Verdienste »um die Wissenschaft und um das kirchliche Leben«

von Imanuel Marcus  19.11.2024

Frankfurt am Main

Tagung »Jüdisches Leben in Deutschland« beginnt

Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, nimmt teil

 18.11.2024

Libanon

Israelischer Angriff auf Beirut - Sprecher der Hisbollah offenbar getötet

Die Hintergründe

 17.11.2024

USA

Wer hat in Washington bald das Sagen?

Trumps Team: Ein Überblick

von Christiane Jacke  17.11.2024

Madoschs Mensch

Wie eine Katze zwei Freundinnen zusammenbrachte – in einem Apartment des jüdischen Altersheims

von Maria Ossowski  17.11.2024

Berlin

Polizei-Bilanz: 6241 Straftaten auf israelfeindlichen Demos

Dazu wurden 3373 Tatverdächtige ermittelt

 15.11.2024

Berlin

Toleranz-Preis für Margot Friedländer und Delphine Horvilleur

Im Jüdischen Museum wird der Preis übergeben

 15.11.2024