von Rabbiner Netanel Wurmser
Die Geburt der Nachkommen Jakows stand unter einem denkbar schlechten Stern. Als gestrandeter Gastarbeiter hatte er bei Lawan einen ungeheuer schweren Stand. Da Lea darauf bestand, die Ehe nicht mit einem Häretiker wie Esaw einzugehen, hatte sich Rachel ihrer erbarmt und ihr den für die Hochzeitsnacht mit Jakow ausgemachten Geheimcode verraten. So kostete es Jakow noch weitere sieben Dienstjahre, bis er Rachel heiraten konnte.
Berücksichtigen wir lediglich die direkten Kinder unserer Stammesmütter Rachel und Lea, dann bekommt Lea zuerst sechs Söhne, Rachel derer zwei. Als siebter Sohn, also eine Art »Schabbat-Kind«, wird Josef geboren. Diese Heiligkeit des Siebten bleibt ein Leben lang an ihm haften, stützt und hilft ihm in seinen finstersten Galut-Stunden in Ägypten. Diese Heiligkeit des Siebten bewegt auch Vater Jakow, ihm ein spezielles Kleid zu fertigen, das Ketonet Passim. Das bestätigt Jakows besondere Liebe zu Josef. Sie ist wie die Liebe G’ttes zum siebten Tag. Ja, eigentlich wirkt sie bis heute nach, indem wir Woche für Woche unsere schönen Schabbat-Kleider aus dem Schrank holen.
Doch mit Josefs Geburt und Namensgebung erhebt Rachel gleich noch die Forderung nach einem achten Sohn (1. Buch Moses 30,24): »Sie nannte ihn aber Josef, um damit zu sagen: G’tt gebe mir noch einen anderen Sohn.« Benjamin, einem Mann ohne Fehl und Tadel, wird dereinst das Land, auf dem das Allerheiligste im Tempel steht, bestimmt sein.
Josefs Leben kennt vier Phasen. Die erste dauerte, bis er verkauft wurde. Die zweite war seine Dienstzeit bei Potiphar, die dritte verbrachte er im Gefängnis, und die vierte war sein Aufstieg in Ägypten bis zu seinem Lebensende.
Von Jugend an ist er vertraut mit Träumen. Mit denen lädt er zuerst zwar die Missgunst seiner Brüder auf sich, aber später in Ägypten wird ihm diese Gabe sehr viel nutzen.
Nachdem Josef nach Ägypten verkauft worden ist, bekommt er eine Stelle als Butler im Herrschaftshaus Potiphars. Dessen Frau bedrängt Josef über eine längere Zeit und will ihm an die Wäsche gehen. Er flüchtet. Sie dreht den Spieß um, hängt ihm einen Skandal an, und Josef wird unschuldig verurteilt. Der Midrasch bestreitet keinesfalls Josefs Unschuld im Falle der Frau Potiphars, legt ihm jedoch zur Last, mit seinen zehn Brüdern nicht standesgemäß umgegangen zu sein. Man erwarte von einem Zaddik wie Josef doch andere Umgangsformen gegenüber den eigenen Brüdern. Und daher werden ihm genau zehn Jahre Gefangenschaft auferlegt.
Nach zwölf Jahren Gefängnis träumt Pharao in der Nacht von Rosch Haschana. Er sah sich nahe des Nils stehen, als sieben fette Kühe dem Wasser entstiegen und in den Wiesen weideten. Danach stiegen sieben magere und sehr schlecht aussehende Kühe aus dem Fluss, fraßen die sieben fetten auf, blieben jedoch mager wie zuvor. Dem folgt ein ähnlicher Traum mit sieben dünnen und sieben starken, gesunden Ähren. Die dünnen Ähren verschlingen die sieben starken, bleiben jedoch gleich dünn.
Zwar träumt Pharao noch die Deutung seiner Träume, doch kann er sie nicht mehr abrufen. Er mobilisiert seinen Stab und ruft nach Spezialisten. Der erste sagt, mit sieben fetten Kühen sei gemeint, dass er sieben Töchter bekommen werde, die sieben mageren würden andeuten, dass sie noch zu seinen Lebzeiten sterben würden. Ein anderer behauptet, die sieben gesunden Ähren bedeuteten sieben Königreiche, die er erobern würde. Ihr Schicksal in den Händen der dünnen Ähren weise auf deren Rebellion hin.
Niemand weiß Rat, bis sich Pharaos Chefbutler an Josef erinnert, der ihm damals seine Träume richtig gedeutet hatte. Josef wird vom Gefängnis aus zu Pharao gebracht und sieht in den beiden Träumen sieben gute und sieben schlechte Jahre – inklusive Handlungsanweisung.
Abarbanel deutet an, dass sich Pharao bei und während Josefs Deutung an den tatsächlichen Vorgang seiner Träume erinnern konnte, Josef dann zum Vize-Pharao beförderte und ihn ein Maßnahmenpaket schnüren ließ, ohne das Eintreffen des Vorhergesagten abzuwarten.
Der Midrasch führt aus, dass ein Traum nur eine kleine Prise Prophetie – ein Sechzigstel – enthält und sein Wahrwerden vom Weg des Interpreten abhängig ist.
Eine Frau kam zu Rabbi Elieser, sich ihren Traum deuten zu lassen. Darin stürzte die Decke ihres Hauses ein. Rabbi Elieser erklärte, sie werde einen Sohn bekommen, was auch eintraf. Nach einem weiteren Traum begab sie sich nochmals zu Rabbi Elieser, doch er war nicht da. Seine Schüler sagten ihr: Erzähle uns deinen Traum, wir werden ihn deuten. Sie sagte, im Traum sei nochmals die Decke ihres Hauses eingefallen. Als Rabbi Elieser zurückkehrte, hörte er Wehklagen. Er wollte wissen, was da los war. Eine Frau sei wegen einer Traumdeutung gekommen, und wir Schüler hatten ihn gedeutet. Rabbi Elieser wollte genau wissen, was sie ihr denn gesagt hätten. Sie wiederholten: Dass ihr Mann sterben werde. Daraufhin beschuldigte Rabbi Elieser sie, am Tode des Gatten schuldig zu sein. So, wie in der Tora Josef im Gefängnis dem Mundschenk und dem Bäcker ihre Träume interpretiert hatte.
Der Autor ist Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs.